Der Kraehenturm
sich keine Pause gönnen. Gähnend zog er die Vorhänge wieder zu. Er hatte nur knapp zwei Stunden geschlafen, um noch vor Morgengrauen das Buch der Hexe zu Ende zu lesen. Aber jetzt war Eile geboten. Er zog sich an, holte sich aus der Küche ein paar Rosinenbrötchen, um seinen knurrenden Magen zu füllen, eilte in den Stall und sattelte Mantikor. Kurze Zeit später ritt er aus dem Hof, warf einen Blick auf das Magistratum und glaubte zu sehen, wie der Vorhang vor einem der erleuchteten Fenster hastig wieder zugezogen wurde. Die Angst ließ seine Haut kribbeln. Würde er Franz’ nächstes Opfer werden?
Icherios wartete, bis ein Nachtwächter seine Runde gedreht hatte und den Platz, auf dem der Krähenturm stand und der nur von einer einzelnen Laterne beleuchtet war, wieder verließ. Dann ging er zu einem Springbrunnen, der von einem gruselig aussehenden Wasserspeier gekrönt wurde und im Schatten des Krähenturms lag. Selbst das Licht der Straßenlaterne vermochte nicht, den Schatten des Turms zu durchdringen.
Der junge Gelehrte vergewisserte sich, dass in keinem der Häuser Licht brannte, bevor er seine Laterne entzündete. Ein Krächzen erklang. Icherios drehte sich um. Auf der Straßenlaterne saß eine der Krähen mit den violett leuchtenden Augen und starrte ihn an. Er bemühte sich, die Kreatur zu ignorieren, und setzte sich auf den Brunnenrand, wobei er dem Wasserspeier voller Unbehagen den Rücken zukehrte, denn dieses merkwürdige Geschöpf mit seinen ledrigen, unebenen Schwingen, die an einem abstoßend mageren Körper saßen, und diesem Maul mit der heraushängenden, geschwollenen Zunge wirkte nicht gerade vertrauenerweckend. Mantikor stand gelassen neben einem der hohen Fachwerkhäuser und döste. Der junge Gelehrte stellte die Laterne neben sich, dann holte er die Abschrift der Rituale der Hexereye hervor. Seine Hände zitterten vor Angst, aber es war eine Angst, die er sich nicht erklären konnte. Schließlich war es nur ein Text! Seit wann fürchtete er sich vor Büchern? Er blickte zu der Krähe hinauf, die ihn unablässig beobachtete. Er musste herausfinden, was in Heidelberg vorging. Vielleicht konnte er so seine Schuld ableisten, die er durch sein Verbrechen in der Andreasnacht auf sich geladen hatte. Er wünschte sich, Heidelberg, das Magistratum und die Kanzlei mit all ihren seltsamen Kreaturen hinter sich lassen zu können. Aber nun war es zu spät, zu tief war er schon in die Geschehnisse verstrickt. Seine einzige Hoffnung lag in der Aufklärung der Vorgänge.
In dem Moment, in dem er die Papiere entfaltete, flog die Krähe mit einem lauten Krächzen davon. Icherios zuckte zusammen und sah ihr nach, dann wandte er sich dem Text zu. Fasziniert starrte er darauf. Das wenige Licht wurde von den Buchstaben aufgesogen, sodass sie in einem grellen Rot leuchteten, während sie zugleich ein eigenes Leben zu entwickeln schienen. Wie mit tausend feinen Spinnenbeinchen versehen lösten sie sich vom Pergament und huschten umher. Beinahe hätte der junge Gelehrte die Abschrift vor Schreck fallen lassen, doch er konnte sich gerade noch beherrschen. Schließlich hatten alle Zeichen ihren richtigen Platz gefunden, saugten sich am Papier fest und offenbarten damit die Anweisung für ein unheiliges Ritual. Es wurde vollzogen, um einen Menschen in eine Schöpfung des Leids zu verwandeln, indem man ihn zwang, die Unendlichkeit des Steins zu erblicken. Dabei wurde der Verstand ausgelöscht und durch bedingungslosen Gehorsam gegenüber seinem Macher ersetzt. Icherios schloss einen Moment erschüttert die Augen, bevor er die Kopie der Rituale der Hexereye in der festen Absicht faltete, sie so bald wie möglich zu vernichten. Dieses Wissen war zu grausam, um es zu bewahren. Er stand auf und klopfte sich das Eis von seinen Kleidern. Immerhin wusste er nun, was diese Kreatur war, die in der Abschrift Schattenverschlinger genannt wurde, und dass sie im Auftrag eines Menschen handelte.
39
Verräterherz
G
20. Novembris, Heidelberg
I ch habe ein Geschenk für dich.« Silas warf Gismara einen großen Lederbeutel vor die Füße. Als sie nach ihm greifen wollte, hob er die Hand. »Warte.«
Sie blickte ihn skeptisch an. »Was ist das?«
»Wie ich sagte, ein Geschenk.«
Sie befanden sich wieder im Mäuseschwanz . Die Hexe weigerte sich weiterhin ihm zu verraten, wo sie wohnte. Dass er es mittlerweile auch ohne ihre Hilfe herausgefunden hatte, musste er ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden.
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