Der Kraehenturm
verschwanden viele Arten, von manchen gab es nur noch wenige, und auf andere Wesen hatte es kaum eine Auswirkung. Die genauen Gesetzmäßigkeiten hat bisher keiner entschlüsselt. Bei den Vampiren und Werwölfen geht man davon aus, dass sie aufgrund ihres Ursprungs weniger stark betroffen sind. Es sind von der Alchemie, der Wissenschaft, erschaffene Wesen und keine Kreationen reiner Magie. Doch gleich, welches Schicksal ihre Art erlitt, alle Überlebenden lernten schnell, dass die Schatten und die Verheimlichung ihrer Existenz ihre einzige Chance sind, um die schwierige Zeit überdauern zu können.«
Icherios’ Knie zitterten, er setzte sich trotz der Kälte auf den Boden. »Warum Heidelberg?«
»Die Magie ist stark an diesem Ort. Hier kreuzen sich zwei Ley-Linien, magische Kanäle höchster Intensität, die durch den Schleier ausgelöscht werden.«
»Und was hat es mit dem Bund auf sich?«
»Es ist ein Zusammenschluss von magischen Kreaturen und Menschen, die sich danach sehnen, die Welt in ihren natürlichen Zustand zurückzuversetzen. Manche wollen nicht länger im Geheimen leben müssen, andere versprechen sich Macht davon, und wieder andere glauben, dass der Mensch nicht das Recht hat, so in die Welt einzugreifen.«
»Deshalb wollen sie den Schleier vernichten.«
»Ihnen ist es fast gelungen.« Hazecha kniete nieder und strich mit ihren Händen sanft über die Grabplatte. »Der Stab benötigt sehr viel Energie, mehr als ein einzelner Mensch ihm geben kann. Deshalb wurden mehrere Fragmente erschaffen, die mit Menschen und all ihren Nachfahren in einem Ritual verbunden wurden. Diese Menschen opfern einen Teil ihrer Lebensenergie, um den Schleier aufrechtzuerhalten. Eine Gruppe Geistlicher verbarg sie und übernahm ihren Schutz.«
»Die Morde in Fulda, Augsburg und den anderen Städten«, hauchte Icherios.
»Orte von magischer Bedeutung, an denen die Fragmente verborgen wurden. Städte wurden zu ihrem Schutz errichtet, und dennoch gelang es dem Bund, sie aufzuspüren, ihre Träger zu töten und sie an sich zu bringen.«
»Das kann nicht sein«, protestierte der junge Gelehrte. Die Kälte schlich sich in seine Knochen, doch war sie nicht der einzige Grund für sein Zittern.
»Wie erklärst du dir den Kälteeinbruch, die Anwesenheit der Craban?«
»Wollt Ihr sagen, dass der Schleier das verursacht?«
»Je mehr Fragmente ihren Dienst versagen, desto weniger Energie erhält die Maschine. Um dies auszugleichen, zieht sie die Wärme aus dem Land. Aber es reicht nicht. Der Schleier schwindet, und die magischen Kreaturen kehren zurück. Allen voran die Craban, die Schaben der magischen Welt.«
Icherios blickte zum Himmel hinauf. Ein gewaltiger Schwarm der seltsamen Krähen zog seine Kreise um den Gipfel. Das Rauschen hunderter Flügel hing in der Luft. »Warum haltet Ihr es nicht auf?«
»Schau mich an, glaubst du, mir wäre es wichtig, dass die Welt so bleibt, wie sie ist?«
Auf einmal fühlte Icherios sich allein. Welches übernatürliche Wesen wäre bereit, den Schleier zu erhalten? Die ständig vom Menschen verfolgten Hexen, die Werwesen, die ihre wahre Natur nur im Geheimen ausleben konnten, oder die Vampire, gehasst von der gesamten menschlichen Bevölkerung?
»Warum helft Ihr mir dann?«
»Neutralität, mein Lieber«, lachte sie. »Es ist immer sinnvoll, Verbündete auf beiden Seiten zu haben. Mein Leben ist auch jetzt gut, es besteht für mich kein Zwang, der Magie zurück in die Welt zu verhelfen.«
»Wisst Ihr, wer das Heidelberger Fragment besitzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Trotzdem begann Icherios allmählich, die Zusammenhänge zu begreifen. Der Schattenverschlinger war erschaffen worden, um das Versteck des Fragments aus den Männern herauszupressen. Was war besser dazu geeignet als diese furchteinflößende Kreatur und die Angst vor dem sich auflösenden Schatten, die der junge Gelehrte am eigenen Leib erfuhr. Eine brennende Frage nagte an ihm: War der Schattenverschlinger bereits erfolgreich gewesen?
»Du musst gehen«, sagte Hazecha. »In der Dämmerung erwachen die hungrigeren Geschöpfe. Halte dich vom Heidenloch fern.«
»Was ist das?«
Sie griff seine Hand mit ihren ledrigen, klauenbewehrten Fingern und führte ihn an dem Kloster St. Stephan vorbei zu einem notdürftig mit einem Gitter bedeckten Loch in der Mitte einer Reihe hoher Bäume. Icherios spähte in die Dunkelheit, konnte aber keinen Boden erkennen. »Wie tief ist es?«
»Mindestens fünfzig Schritte«,
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