Der Kraehenturm
flüsterte die Lamia. »Sprich nicht so laut, sie können dich hören.«
»Wer?«
»Die Toten.«
Icherios schauderte.
»Hier wurden Menschenopfer dargebracht, doch die Seelen fanden keine Ruhe, wandelten sich im Laufe der Jahrhunderte in nach Menschenfleisch gierende Bestien. Sie werden die Ersten sein, die zum Leben erwachen, wenn der Schleier fällt. Nun geh.«
Das ließ Icherios sich nicht zweimal sagen. Er eilte zu Mantikor, sprang in den Sattel und stürmte den eisigen Berg hinunter, das Krächzen der Craban in den Ohren.
41
Im Gespinst der Lügen
G
20. Novembris, Heidelberg
S ie trafen sich im Keller eines verlassenen Universitätsgebäudes in einem Raum, in dem die Präparate von menschlichen und tierischen Organen und Embryonen in großen Glasgefäßen lagerten. Eiserne Laternen spendeten ein schwaches Licht und ließen die schwarzen, gläsernen Augen der ausgestopften Tiere funkeln. Avrax hatte sie durch einen Boten um das Treffen gebeten. Suchend sah sie sich im Raum um, dann hörte sie das vertraute Geräusch hinter sich und blickte ihrem Liebsten ins Antlitz.
»Warum hast du mich an diesen Ort bestellt?«
Zärtlich legte er einen Finger auf ihre Lippen. »Keine Fragen.«
Carissima nickte. Avrax wirkte ungewohnt ernst, und das flößte ihr mehr Angst ein, als sie je zuvor in ihrem Leben verspürt hatte.
»Dein kleiner Freund ist in Gefahr. Verrat droht ihm.«
»Das sagtest du bereits. Er wird schon auf sich aufpassen.«
»Hast du ihn nicht gewarnt?« Avrax schrie entsetzt auf.
»Keine Sorge, er traut Auberlin ohnehin nicht.«
»Auberlin?«
Carissima blickte ihn ungläubig an. »Du glaubst doch nicht, dass Freyberg der Verräter ist?«
Er packte ihren Arm, seine Hände schimmerten gläsern. »Sag nicht, er weiß noch immer nicht, was vor sich geht.«
»Ich fürchte nicht.« Die Vampirin wurde blass. Sie hätte sich nicht so sehr von Avrax und den Bällen ablenken lassen sollen.
Plötzlich drang das Lachen eines Mannes an ihr Ohr, und ein halbes Dutzend slawischer Vampire, ein besonders brutaler Stamm, der sich oft als Söldner verdingte, schlenderte die Treppen herunter. »Du weißt, wer uns schickt, du hättest stillhalten sollen. Nun werden du und deine kleine Freundin sterben.«
Carissima blickte Avrax an. »Was geht hier vor?«
»Ich wurde erpresst, doch ich bin nicht länger bereit, mich den Machenschaften dieser Kreatur zu unterwerfen.«
Die Vampire kreisten sie ein, Carissimas Fangzähne schossen hervor, und sie fauchte sie an.
Der Glasfürst packte ihren Arm. »Du musst fliehen und Icherios warnen. Er muss ihn aufhalten.«
»Ich lasse dich nicht zurück.«
Avrax lachte. »Sie können mich nicht töten.« Dann flüsterte er ihr den Namen des Verräters ins Ohr und stürzte sich auf die Männer. Carissima fühlte sich hin- und hergerissen, während sie sich eines schwerfälligen Vampirs mit langem schwarzem Bart erwehrte und ihm zuerst die Kehle aufriss, um ihm dann mit ihren scharfen Klauen den Kopf abzuschlagen. Durfte sie Avrax zurücklassen? Ein Blick auf ihn räumte jeden Zweifel aus. Immer wieder verwandelte er sich zu Glasstaub, um sich hinter den Männern wieder zu materialisieren und ihnen mit bloßen Händen schwere Knochenbrüche und tiefe Wunden zuzufügen. Wann immer einer ihn packte, löste er sich auf und zerrann im wahrsten Sinne des Wortes zwischen dessen Fingern. Die Vampirin trat einem Angreifer ins Gesicht, hörte die Knochen unter ihrem Absatz knirschen, dann wandte sie sich ab und rannte die Treppe hinauf.
Carissima wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb, um Icherios zu warnen. Warum hatte sie nicht vorher erkannt, welches Spiel hier gespielt wurde? Dass es dem jungen Gelehrten erneut gelungen war, sich in ein gefährliches Netz aus Lügen zu verstricken?
Während sie über die Dächer Heidelbergs sprang, den Mond als helle Sichel in ihrem Rücken, folgten ihr die Worge im Schatten der Häuser. Plötzlich erklang ein hohes Jaulen. Nein! Carissima kannte diese Stimme, Favia, die Leitwölfin! Von allen Worgen war sie ihr die liebste. Die Weisheit und Gelassenheit des Alters, gepaart mit dem Respekt, den sie nach der Aufzucht von sechs Würfen von den anderen Wölfen einforderte, machten sie zur idealen Begleiterin in einer dicht bevölkerten Stadt. Die Vampirin sprang mit einem Satz zu Boden, ging in die Knie, um die Wucht des Aufpralls abzumindern, und eilte auf die Quelle des Jaulens und Winselns zu. Warum gab es keine Kampflaute? Worge fürchteten
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