Der Kraehenturm
Ihre Bewegungen spiegelten sich in den tanzenden Schatten auf dem Boden wider. In der Luft kreisten Krähen. Sie schienen ihn zu verfolgen. Ab und an setzten sich einige von ihnen auf einen Baum in seiner Nähe und beobachteten ihn mit violett schimmernden Augen. Es wurden immer mehr, je höher er kam. Endlich erreichte er die freie Fläche um die Ruinen des Stephansklosters. Zwischen den Baumstämmen hindurch konnte Icherios das Glitzern des Neckars sehen und die Umrisse des Heidelberger Schlosses auf dem gegenüberliegenden Schlossberg erahnen.
Er stieg ab und führte Mantikor zu einem Baum, an dem er ihn festband. Dann ging er den schmalen Pfad hinauf, der unterhalb der Überreste des Klosters St. Michael begann, der zweiten Ruine auf dem Heiligenberg, und zum Bittersbrunnen führte.
Hazecha saß, in ein einfaches, weißes Leinenkleid gehüllt, auf dem steinernen Rand des Brunnens. Sie hatte eine Laterne auf den Boden gestellt, deren Licht mit dem Rot ihrer Haare spielte. Sie trug es offen, nur ein zierliches Diadem hielt es aus ihrem Gesicht heraus.
»Wir haben nicht viel Zeit, bis sich das Fenster schließt.«
»Was für ein Fenster?«
»Das Mondlicht«, Hazecha deutete auf die hoch am Himmel stehende Mondsichel. »Es ermöglicht mir, dir die Antwort auf deine Frage zu zeigen. Bist du bereit?«
Icherios war sich nicht sicher, auf was er sich da einließ, doch es gab jetzt kein Zurück für ihn. »Ja.«
»Was auch immer geschieht, ich werde dir kein Leid zufügen, das schwöre ich bei den großen Göttinnen.« Sie biss sich ins Handgelenk und ließ einige Tropfen Blut in den Brunnen fallen. »Nun musst du den Eid ablegen, mir nichts anzutun.«
»Bitte kein Blut«, stammelte er.
Hazechas ungeduldiger Blick war Antwort genug.
»Ich brauche ein Messer.«
Die Hohepriesterin beugte sich vor und zog einen kleinen Dolch aus ihrem Stiefelschacht. Icherios nahm ihn, holte tief Luft und ritzte sich in den Arm. Während einige Tropfen seines Blutes in den Brunnen fielen, leistete er ihr den Schwur. Beim Anblick seines Lebenssaftes, der aus seinem Arm tropfte, wurde ihm schwindelig, und er ging in die Knie.
Hazecha blickte ihn amüsiert an. »Mut und Angst können doch so nah beieinanderliegen.«
Einige Minuten herrschte Stille, dann hörte die Welt auf, vor den Augen des jungen Gelehrten zu kreisen, und er richtete sich auf. »Ich bin bereit. Was auch immer Ihr vorhabt.«
»Zuerst musst du meine wahre Gestalt kennenlernen.« Bevor er etwas erwidern konnte, öffnete sie die Verschlüsse ihres Kleides, warf es mit einem achtlosen Schulterzucken ab und stand nackt vor ihm. Bevor er sich mit roten Wangen abwenden konnte, begann blutrotes Licht um sie zu erstrahlen, ihre Figur zu umschmeicheln. Sie hielt ihre Arme in die Luft gestreckt, während sich ihre Haut verfärbte und einen blaugrauen Ton annahm. Ihre Füße verlängerten sich, Klauen bildeten sich statt Zehen, und aus ihrem Rücken wuchsen schwarze, ledrige Schwingen. Auch in ihrem Gesicht war eine Veränderung zu erkennen. Sie war zwar noch immer wunderschön, aber ihre Augen füllten sich mit dunklem Rot, während aus ihrem Mund zwei dolchartige Fangzähne hervorschossen.
Icherios torkelte zurück, als sie sich in die Luft erhob und einen Schritt über dem Boden schwebte. Was für ein Geschöpf war sie?
»Ich bin seit Jahrhunderten kein Mensch mehr. Folge mir.«
Der junge Gelehrte blieb vor Angst erstarrt mit weit aufgerissenen Augen stehen.
»Ich gab dir mein Wort, dich am Leben zu lassen.«
Icherios fiel es schwer, ihr zu glauben, dennoch zwang er sich, ihr zu folgen. Sie führte ihn in die Ruine des Stephansklosters vor eine alte, verwitterte Grabplatte mit lateinischer Inschrift.
»Das ist mein Grab. Das Grab, in das Ricfrid, der geldgierige Bruder meines Gatten, mich brachte. Zuerst tötete er meinen Mann, nahm mich dann zu seinem Weib, vergewaltigte und ermordete mich anschließend. Sind Zorn und Leid groß genug, wird einer Frau manchmal die Gnade der Rache gewährt.«
»Was bist du?«, krächzte Icherios. Seine Kehle war vollkommen ausgetrocknet.
»Eine Lamia, eine Rachedämonin, die vom Fleisch der Männer lebt.«
Nun verstand Icherios, warum sie auf dem Schwur bestanden hatte, auch wenn er die Vorstellung, dass er eine Dämonin vernichten könnte, als lächerlich empfand.
»Komm her, und nimm meine Hand. Es ist Zeit, dass ich dir deine Antwort zeige.«
Die Neugier des jungen Gelehrten besiegte seine Angst. Entschlossen packte er zu.
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