Der Kraehenturm
gibst.«
»Was immer du verlangst.«
Die Lamia blickte zu Silas hinüber. Dem Hexenjäger lief es kalt den Rücken hinunter. Sie wusste, wie viele Hexen er getötete hatte.
»Du bleibst für immer bei mir als meine Gefährtin.«
Gismara riss die Augen auf. »Aber …« Tränen rannen ihr über die Wange.
»Nein«, fuhr Silas dazwischen. »Das könnt Ihr nicht verlangen.«
»Glaubt Ihr, ich überlasse sie einem Mann, der unzählige Schwestern ermordet hat?«
Gismara sah ihn ungläubig an. »Ist das wahr?«
Der Hexenjäger schlug die Augen nieder. »Es ist wahr, aber das war, bevor ich dich kannte.«
Hazecha lächelte, als sich Gismara zu ihr umdrehte. »Ich verspreche es. Wenn ich zurückkehre, bin ich dein.«
Die Lamia gab ihr einen Kuss auf den Mund, dann griff sie in den Ausschnitt ihres Kleides und holte eine Kette hervor, an der ein Ring hing. Sie streifte ihn über den Kopf und legte ihn in Gismaras Hände.
»Ihr braucht seinen Zwilling, um das Tor zu öffnen.«
»Was?«, japste der Hexenjäger. Das Gefühl, Gismara verloren zu haben, rüttelte an seiner Selbstbeherrschung und raubte ihm seine Kraft.
»Die Herrin der Nixen trägt das Gegenstück zu meinem Ring.«
»Deswegen hat Auberlin die Nixe getötet«, hauchte Gismara.
»Der Bund muss einen anderen Zugang gefunden haben«, überlegte Silas. »Doch warum besitzen ausgerechnet Hexen und Nixen die Schlüssel zum Schleier?«
Hazecha lächelte kalt. »Kontrolle. Wir stahlen die Ringe, um so etwas Macht über die Vorgänge zu gewinnen. Den Schleier und damit die Menschheit zu vernichten, ergab für uns aber keinen Sinn. Warum etwas zerstören, wenn man auf die eine oder andere Weise von ihm profitieren kann.«
Silas glaubte nicht, dass das die ganze Wahrheit war, aber der zunehmende Lärm auf der Straße beunruhigte ihn. Sie mussten von hier verschwinden, bevor es zu spät war.
»Geht zu den Wassergeborenen, und bittet um den Ring. Nehmt Icherios Ceihn mit – sie mögen ihn.«
»Das ist ein Umweg«, wandte Silas ein.
»Es ist die einzige Möglichkeit.« Gismaras entschiedener Ton duldete keine Widerrede.
Die Lamia umarmte Gismara. »Nun geht.« Ein lautes Kreischen erklang von draußen. Hazechas Augen erglühten in dunklem Rot. »Die Opfer des Heidenlochs sind erwacht. Eilt Euch.«
Während sie zur Heiliggeistkirche rannten, sprachen sie kein Wort. Was sollte Gismara ihm auch sagen? Dass sie keine andere Wahl gehabt hatte? Dass es ihr leidtat?
Schreie des Entsetzens begleiteten sie auf ihrem Weg. Sie ertönten jedes Mal, wenn die Geister sich an den Lebenden labten. Endlich trafen sie an der Kirche ein. Die anderen warteten bereits in deren Schatten, die Blicke zum Himmel gerichtet.
Nachdem Gismara und Silas den Rest der Gruppe über die neuen Erkenntnisse informiert hatten und ihnen Raban vorgestellt worden war – es hatte nicht vieler Worte bedurft, den alten Vampir von ihrem Plan zu überzeugen –, schlichen sie unter Gismaras Führung zum Neckarufer. Dort bot sich ihnen ein Anblick, der sich für immer in Icherios’ Gedächtnis einbrannte: Das Wasser sprudelte über mit wild um sich schlagenden Leibern. Dampf stieg in dicken Schwaden aus dem Wasser auf. Der Neumond spendete nur wenig Licht, trotzdem erkannte Icherios die aufgequollenen Leichen ertrunkener Männer und Frauen, die wieder zum Leben erwacht waren und im Kampf mit den Nixen lagen. Die Wassergeborenen hieben ihre spitzen Zähne in das Fleisch der Toten, rissen Stücke aus deren Leibern, und dennoch erlahmte die Gegenwehr der Untoten nicht.
»Offensichtlich haben sie nicht alle Menschen gefressen, die in die Fluten fielen«, wisperte Franz.
»Wenn sie uns sehen, werden sie über uns herfallen«, sagte Silas.
»Wir haben keine andere Wahl.« Franz runzelte besorgt die Stirn. »Wir brauchen den Ring, oder unsere Zukunft wird so aussehen.«
Icherios lief es kalt den Rücken hinunter. »Bleibt ihr zurück, ich werde gehen. Falls mir etwas geschieht, müsst ihr den anderen Zugang suchen, den der Bund bereits entdeckt hat.«
»Nichts da«, wandte Raban ein. »Wir werden dich und die Nixen beschützen, während ihr miteinander sprecht.«
Die restliche Gruppe nickte entschlossen. Der junge Gelehrte blickte von einem zum anderen. So unterschiedlich sie auch waren, und so seltsam ihre Gruppe auch war, so stark war sein Vertrauen zu ihnen.
Er holte tief Luft, dann ging er, gefolgt von seinen Freunden, zum Ufer und schrie gegen die tosenden Fluten an. »Ich versprach Euch,
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