Der Kraehenturm
Vor ihm lag der Beweis, dass er tatsächlich kein Mensch mehr war. Jetzt musste er unbedingt eine wissenschaftliche Erklärung für die Existenz von Vampiren, Werwölfen und Geistern finden, sonst würde sein Weltbild völlig aus den Fugen geraten. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, hielt seine gespreizte rechte Hand gegen das Licht einer Kerze und betrachtete die feinen Äderchen in der dünnen Haut zwischen seinen Fingern.
Er blickte zu Maleficium hinüber, dessen Augen in einem dunklen Violett leuchteten. Seufzend stand er auf und holte aus einer Dose ein Stück Trockenfleisch. In der einen Hand den Leckerbissen, in der anderen die Spritze, schlenderte er auf das Tier zu.
»Das wird jetzt ein wenig wehtun, mein Kleiner«, murmelte er betrübt. Er lenkte die Ratte mit dem Fleisch ab, hielt sie am weichen Rückenfell fest und stach mit der Nadel kurz in die Oberseite ihres Schwanzes, sodass ein Tropfen Blut hervorquoll. Der Nager bemerkte den Stich nicht, sondern fraß unbeirrt weiter, selbst als Icherios einen Objektträger nahm und das Blut darauf verteilte. Dennoch kraulte der junge Gelehrte seinen kleinen Gefährten einige Zeit, bevor er zu seinem Mikroskop zurückkehrte.
Hoffnungsvoll blickte Icherios durch das Objektiv. Vielleicht fand er eine Antwort im Blut des Nagers.
Die Blutkörperchen sahen äußerlich unverändert aus, doch wann immer Icherios versuchte, die beiden Blutproben miteinander zu vermischen, zogen sich seine Blutkörperchen von Maleficiums zurück und drängten sich beinahe ängstlich zusammen. Fasziniert beobachtete er das Phänomen. Er benötigte das Blut von normalen Ratten, um die Reaktion vergleichen zu können. Wenn er nur wüsste, ob Maleficium tatsächlich unsterblich war. Ich könnte versuchen ihn zu töten. Icherios erstarrte, erschüttert über seinen Gedanken.
Der Nager hörte auf, sich die Pfötchen zu lecken, trippelte zu dem jungen Gelehrten, krabbelte an ihm hoch und setzte sich auf dessen Schulter. Icherios’ Finger glitten durch das warme, weiche Fell. Die Schnurrhaare kitzelten an seiner Wange. »Ist schon gut, mein Kleiner.« Noch brachte er diesen Schritt nicht fertig. Die kleine Ratte war sein letzter wahrer Freund, und Icherios war nicht bereit, das Risiko einzugehen, ihn zu verlieren.
Er setzte sich vor den Kamin und grübelte darüber nach, wie er eine lebende Ratte fangen könnte. Sie würde auf jeden Fall am Leben bleiben müssen, denn das verklumpte Blut toter Tiere nützte ihm nichts. Er erinnerte sich, in einem Buch Zeichnungen von Lebendfallen aus Weidenzweigen gesehen zu haben. Vielleicht fand er in der Bibliothek des Magistratum ein passendes Buch. Kurz entschlossen nahm er Maleficium, einen Bogen Papier und kletterte, nachdem er nach einigem Suchen den Weg gefunden hatte, die schwankende Leiter zur Bibliothek hinunter. Sie war genauso gemütlich, wie sie von oben wirkte, und bot ausreichend Platz für seine Nachforschungen. Die gewaltigen Regale bogen sich unter der Last der Bücher, und in unzähligen Kisten verteilt lagen die Zeitungen der letzten Jahre aus allen Ecken Europas. Für Icherios war das ein wahres Paradies. Ehrfürchtig bewunderte er die Bände, die sich allesamt mit Wissenschaft und Magie beschäftigten und zum Teil mehrere Jahrhunderte alt waren. Nach kurzem Suchen fand er auch schon ein passendes Buch: Von der hohen Kunst allerlei Getier zu fangen. Er setzte sich mit dem dünnen Buch in einem Einband aus hellem, abgenutztem Leinen an einen Tisch. Bereits nach wenigen Seiten hatte er eine passende Konstruktion gefunden. Die Materialien waren leicht zu beschaffen, denn es waren nur biegsame Holzzweige und Schnüre nötig. Zufrieden lehnte er sich zurück. Es war wohltuend, nicht mehr zur Tatenlosigkeit verdammt zu sein.
Plötzlich hörte er ein Räuspern hinter sich. Erschrocken fuhr er herum und sah Auberlin an ein Regal gelehnt stehen. »Wie seid Ihr hier hereingekommen?«, fragte Icherios ihn verwundert. Schließlich saß er direkt vor der Leiter, und es war unmöglich, dass Auberlin sie benutzt hatte, ohne dass es ihm aufgefallen wäre.
»Das Magistratum birgt viele Geheimnisse.« Auberlin lächelte. »Mit der Zeit werdet Ihr sie alle kennenlernen. Mit was beschäftigt Ihr Euch gerade?«
»Ich beabsichtige, Ratten für meine Forschungen zu fangen. In Anatomie haben wir gelernt, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht so groß ist wie allgemein angenommen.« Icherios hoffte, dass er ihm die Lüge glaubte. Er fand
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