Der Kraehenturm
Getuschel der anderen Studenten und fühlte ihre Blicke. Icherios drehte sich hilfesuchend zu Marthes, aber dieser zuckte nur mit den Schultern. Icherios’ Kopf fing zu pochen an, als er sich zu dem weißhaarigen, untersetzten Mann stellte, der die Knochen in eine mit Holzwolle ausgelegte Kiste packte.
»Sie haben Interesse an der Rechtsmedizin.«
Icherios war sich nicht sicher, ob es sich um eine Frage handelte. »Der menschliche Körper und seine Funktion sind überaus faszinierend«, antwortete er ausweichend.
»Da haben Sie recht. Leider ist die Lehre an dieser Universität nicht mehr das, was sie einst war. Dennoch möchte ich den Studenten die Gelegenheit bieten, sich außerhalb der Vorlesungszeiten weiterzubilden. Sind Sie in der Lage, ein Geheimnis zu bewahren?«
Crabbé starrte ihn durchdringend an. Das Pochen in Icherios’ Schädel verstärkte sich.
»Natürlich.« Wenn der wüsste, was für Geheimnisse ich bereits bewahre , dachte der junge Gelehrte.
»Kommen Sie morgen Abend zur zwanzigsten Stunde in die Heckengasse am Fuße des Gaisbergs. Dort befindet sich eine alte Grabkapelle.«
Icherios beschlich ein unbehagliches Gefühl. »Und was erwartet mich dort?«
Crabbé schenkte ihm ein Lächeln, das freundlich wirken sollte, aber die drei gelben Zahnstummel in seinem Mund verliehen ihm etwas ungewollt Komisches.
»Kommen Sie morgen, wenn Sie es wissen wollen.« Er packte den letzten Knochen ein, klemmte sich die Kiste und seine Unterlagen unter den Arm, grüßte knapp und verschwand dann durch einen separaten Eingang, den nur Dozenten und ihre Assistenten benutzen durften.
Draußen wartete Marthes auf ihn. »Was wollte der Alte denn?«
»Wenn ich das wüsste. Er hat mich für morgen Abend zu einem Treffen eingeladen, angeblich zur Weiterbildung.«
»Saufgelage für Streber.« Marthes grinste. »Aber heute gehörst du noch zu uns und bereicherst unsere politischen Diskussionen mit deiner Weisheit.«
Icherios schüttelte den Kopf. »Ich bin verabredet.«
»Mit deiner Freundin von gestern?«
»Ja, ich muss mit ihr reden.«
»So kann man das auch nennen.« Marthes’ Schultern sackten enttäuscht hinab. »Man lässt Freunde doch nicht wegen eines Weibsbilds im Stich.«
»Sie ist nicht irgendein Weib, und es ist wichtig.«
»Hab schon verstanden.« Marthes klang zum ersten Mal wirklich verärgert. Er wandte sich ab und ging zur Gruppe der wartenden Saufkumpane hinüber. Ohne Icherios noch eines Blickes zu würdigen, stimmte Marthes in ihr Studentenlied ein und verschwand zwischen den Häusern.
Der junge Gelehrte blickte zum klaren Himmel hinauf. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und überzog das Blau mit einem hellen Leuchten. Er setzte Hut und Brille auf, versenkte seine Hand in der Innentasche seines Mantels, um Maleficium zu streicheln, und machte sich auf den Weg zu Carissima. Sie wohnte auf der anderen Seite Heidelbergs, wie er einer kleinen Notiz bei den Abschriften entnommen hatte. Icherios’ Füße schmerzten, als er endlich vor einem eleganten Haus mit steinernen Figuren an der Fassade stand. Er atmete dreimal tief ein, dann stieg er die Treppe hinauf und bediente den schweren Türklopfer. Kurze Zeit später öffnete ihm ein hochgewachsener, dürrer Mann mit langer Nase. Nachdem dieser ihn von Kopf bis Fuß gemustert hatte, sprach er in nasalem Ton.
»Die Dame erwartet Sie bereits.« Er trat beiseite und verbeugte sich leicht, als Icherios eintrat.
»Darf ich um Ihren Mantel und Hut bitten?«
Der junge Gelehrte überlegte, was er nun tun sollte. Maleficium saß noch immer in seiner Manteltasche und war inzwischen zu groß, um ihn vor dem wachsamen Blick des Mannes zu verbergen. Aber Carissima kannte Maleficium. Er entschloss sich, es auf eine empörte Reaktion ankommen zu lassen, und holte den Nager mit vorgetäuschter Selbstverständlichkeit hervor. Der Diener musste eine ausgezeichnete Ausbildung genossen haben. Einzig seine Augenbrauen zuckten kurz, als er der riesigen Ratte gewahr wurde. Dann nahm er Icherios’ Mantel und Hut und führte ihn die Treppe hinauf. Der junge Gelehrte setzte Maleficium auf seine Schulter und blickte sich im Gebäude um. Es war, ganz nach Carissimas Geschmack, üppig, aber geschmackvoll eingerichtet. Die edle Holztreppe bedeckte ein weicher Läufer. Von der Decke der Eingangshalle hing ein kristallener Lüster aus buntem Glas, und die Türen waren weiß gestrichen und mit kunstvollen Schnitzereien verziert.
Der Diener verließ
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