Der Kraehenturm
würde er ihn doch ohne zu zögern töten, sollte er das Wissen des Lunalions missbrauchen oder es wagen, zu irgendjemandem von den Schöpfungsbüchern der Alchemie zu sprechen. Anscheinend wusste der Fürst jedoch nichts von seinem Streit mit Raban.
Icherios faltete die dicken Bögen Papier auseinander. Carissimas filigrane Handschrift bedeckte jeden Zentimeter des Pergaments. Sie hatte sogar die Zeichnungen übertragen. Doch nach dem ersten Durchlesen legte sich bittere Enttäuschung über den jungen Gelehrten. Es befand sich kein Hinweis in den Aufzeichnungen, wie er die Verwandlung in einen Strigoi rückgängig machen konnte.
Niedergeschlagen verbarg er seinen Kopf in den Händen und schloss die Augen. Gleich sah er wieder das Gesicht des Mannes vor sich, kurz bevor er ihn zerfleischt hatte. Er durfte nicht aufgeben! Er zwang sich, seine Gedanken von der Hoffnungslosigkeit zu befreien, die ihn immer wieder befiel, und holte sich ein Glas Milch aus der Küche, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen. Dabei fiel sein Blick auf einen Krug Wein, und seine Gedanken wanderten zu Julie und Carissima. Er hoffte, dass das Schankmädchen die Vampirin nicht verraten würde. Wie hatte Carissima nur so leichtsinnig sein können? Abergläubige Menschen gab es überall, die bereitwillig an jede Art Spuk glaubten. Zudem ärgerte es ihn, dass Julie sich vermutlich nie wieder in seine Nähe wagen würde. Carissima war aufregend, selbstbewusst und kannte ihn wie sonst keine Frau. Julie dagegen gab ihm das Gefühl, stark und normal zu sein. Bis gestern Abend war ihm nicht aufgefallen, wie sehr er sich bereits an ihre Gegenwart gewöhnt hatte.
Schließlich packte er seine Sachen und eilte zu der einzigen Vorlesung, auf die er sich freute: Medicina Legalis bei Professor Crabbé. Icherios betrat als einer der Ersten das Gebäude und beobachtete, wie der Professor menschliche Knochen auf einem Tisch anordnete, sodass ein vollständiges Skelett entstand.
»Traut Ihr Euch zu, es zusammenzusetzen?« Crabbé sprach, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er gehörte zu den wenigen Dozenten, um die nicht dauernd eine Schar von Assistenten herumsprang.
Icherios überlegte kurz, dann nickte er. »Ich denke schon.«
»Versuchen Sie es.« Der Professor trat zur Seite und lud Icherios mit einer Geste ein, näher zu kommen. Der junge Gelehrte legte seine Unterlagen auf seinen Platz und ging zögernd zu dem Tisch. Auch wenn er Stunden über Zeichnungen des menschlichen Skeletts verbracht hatte, war es etwas anderes, die echten Einzelteile vor sich liegen zu haben. Unsicher griff er nach einem Schlüsselbein. Der weiße Knochen lag kühl und glatt in seiner Hand. Ohne überlegen zu müssen legte er ihn an die freie Stelle unter dem Kopf. Dann nahm er ein Daumenglied und legte es ebenfalls richtig an. Er war sich bewusst, dass der Professor jede seiner Bewegungen genau beobachtete. Doch je länger er an dem Knochengerüst arbeitete, desto sicherer wurde er. Schließlich fügte er den letzten Halswirbel in das Skelett ein. Inzwischen hatte sich der Hörsaal gefüllt, und die Studenten saßen tuschelnd auf ihren Plätzen.
Professor Crabbé nickte ihm anerkennend zu. »Sehr gut. Sie dürfen sich setzen.«
In dieser Vorlesung erklärte Crabbé den Aufbau des menschlichen Körpers und was das Skelett einem über den Menschen verraten konnte. Plötzlich blickte der Professor Icherios an.
»Da Sie sich so gut auskennen, sagen Sie mir doch bitte, wie man nur mithilfe des Oberkörpers abschätzen kann, wie groß der Mensch einst war.«
Icherios fühlte alle Blicke auf sich ruhen und lief rot an. Crabbé hatte bisher selten Fragen an die Studenten gerichtet. Das war vermutlich kein gutes Zeichen. Der junge Gelehrte dankte Gott für sein Gespräch mit dem Doctore und die Lektionen, die er von diesem seltsamen Wesen erhalten hatte.
»Die ausgebreiteten Arme spiegeln von Fingerspitze zu Fingerspitze die Länge des Körpers wider.« Icherios spürte, wie die Stimmung im Hörsaal kippte, als Professor Crabbé ihm anerkennend zunickte. Vom verehrten Aufständischen zum Streber innerhalb einer Stunde. Er warf einen Blick zu Marthes hinüber, doch dieser schien von dem Wandel unbeeinflusst und nickte ihm strahlend zu.
Am Ende der Vorlesung wollte Icherios so schnell wie möglich verschwinden. Er hatte beschlossen, Carissima zu besuchen, auch wenn er noch nicht wusste, was er ihr sagen sollte, doch dann rief Professor Crabbé seinen Namen. Erneut hörte er das
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