Der Kraehenturm
die Decke. Schließlich griff er mit beiden Händen in zwei der Löcher und versuchte sich hochzuziehen. Zuerst rutschte er ab, doch dann fand er Halt, zog sich hoch und vermochte einen kurzen Blick in einen lichtdurchfluteten Raum zu erhaschen, bevor ein hoher Schrei erklang und ihn etwas an der Taille packte und herunterriss. Icherios stürzte starr vor Schreck zu Boden. Vor ihm stand eine ganz in Weiß gehüllte Gestalt. Langsam richtete Icherios sich auf, behielt das Wesen dabei aber im Auge. Er spürte sein rasendes Herz, hörte das Flüstern des Strigoi, den es nach Kampf und Blut verlangte. Plötzlich schrie die Kreatur auf und stürmte auf den jungen Gelehrten zu. Dieser warf sich mit einem Aufschrei zur Seite und wollte sich gerade, das Toben des Monsters in seinem Inneren ignorierend, zur Flucht wenden, als lautes Gelächter erscholl und die weiße Gestalt sich die Kapuze vom Kopf riss. Es war David, einer von Icherios’ Kommilitonen, der eher zu den Strebern gezählt wurde. Ein zischendes Geräusch ließ Icherios herumfahren. Und er konnte sehen, wie eine zuvor noch verborgene Tür langsam aufschwang. Dahinter standen weitere Studenten, die ihn allesamt angrinsten.
»Hiermit darf ich feierlich den Nächsten begrüßen«, rief Markus, ein Student, der ein Jahr unter ihm war. »Leider sieht man durch die Schlitze in der Wand nicht viel.«
David klopfte dem jungen Gelehrten auf die Schulter. »Herzlich willkommen. Du hast unser Begrüßungsritual überstanden. Professor Crabbé wartet bereits.«
Icherios spürte Wut in sich aufsteigen. Er hatte zu oft um sein Leben fürchten müssen, um an solch dummen Scherzen Gefallen zu finden. Er ballte die Fäuste, zwang sich aber zu einem Lächeln.
»Und ihr seid also alles Studenten?« Er konnte ein knappes Dutzend junger Männer zählen.
David nickte. »Der Professor wird dir die Einzelheiten noch erklären. Jetzt komm erst mal mit.« Er führte ihn durch die Tür in einen weitläufigen Raum mit flacher Decke, an dessen steinernen Wänden Sägen, Messer und Zangen in jeder erdenklichen Größe hingen. Eine breite Wachstafel nahm fast die ganze linke Seite ein und zeigte die anatomischen Besonderheiten des Gehirns. Gleichmäßig verteilt standen drei Tische mit nach oben gewölbten Kanten und Löchern, die als Ablauf dienten. Auf ihnen ruhte jeweils eine Leiche, die sich in verschiedenen Stadien der Verwesung befanden.
Professor Crabbé blickte ihnen von einem weiteren Tisch, auf dem Skalpelle, Klammern, Tücher und andere Gerätschaften ausgebreitet lagen, entgegen. Mit einem Lächeln drehte er sich um.
»Willkommen, Icherios. Ich hoffe, die Jungs haben Sie nicht zu sehr erschreckt.«
Icherios zwang sich, seine Hände zu lockern. »Ich vermute, dass dies die übliche Begrüßung eines Neuen ist?«
Crabbé nickte. »Ich will ihnen den Spaß nicht verderben. Immerhin beschäftigen wir uns die restliche Zeit mit dem Tod, da schadet eine kleine Erinnerung an die Freuden des Lebens nicht.« Er deutete auf die Leichen. »In Heidelberg werden zu viele veraltete Theorien gelehrt, anstatt auf die Praxis vorzubereiten. Einige ausgewählte Studenten erhalten von mir die Gelegenheit, dies zu ändern.«
»Wir untersuchen die Leichen?« Icherios’ Augen leuchteten vor Begeisterung.
»Nicht nur das, wir schneiden sie auf, vermessen sie, wiegen die Innereien und versuchen so viel Wissen wie möglich aus ihnen zu ziehen, damit die Spenden nicht verschwendet sind.«
Die Idee faszinierte Icherios. Wie oft hatte er bereits vor sterblichen Überresten gestanden und außer den offensichtlichsten Dingen nichts mit dem anfangen können, was er sah.
»Hat der Kurfürst uns die Leichen zur Verfügung gestellt?«
Crabbé lachte keckernd. »Nein, und auch die Universität würde mein Vorhaben nicht unterstützen. Es sind Schenkungen von Menschen, die nicht genannt werden möchten. Deshalb darf ich Ihnen weder Namen noch Herkunft der Leichname verraten.«
Spenden? Das konnte viel bedeuten. Icherios war sich nicht sicher, was er tun sollte. Professor Crabbé wirkte nicht wie ein gewissenloser Wissenschaftler, aber er hatte sich schon zu oft in Menschen getäuscht. Allerdings bot sich ihm hier die Chance, neue Erkenntnisse zu gewinnen und sie zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Das war eine gute Möglichkeit, den Mord, den er als Strigoi begangen hatte, wieder etwas auszugleichen, redete er sich ein.
»Wie oft finden diese Treffen statt?«
»Es hängt von der Spendenfreudigkeit
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