Der Kraehenturm
sanft auf dem Gipfel des Gaisbergs und belegte die Straßen Heidelbergs mit einem silbrigen Glanz. Es war windstill, und nur der Widerhall von Icherios’ Schritten drang durch die Dunkelheit. Der Teil der Stadt, in der die Heckengasse und somit der Treffpunkt mit Professor Crabbé lag, war nach der Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1693 von den überlebenden Bewohnern verlassen worden. Unruhig spähte Icherios zu den einstigen Türen und Fenstern, die jetzt nur noch schwarze Löcher waren, aus denen ihn Tausende gieriger Augenpaare zu beobachten schienen. Nicht weit von seinem Ziel entfernt passierte er eine Straße, die ihm seltsam bekannt vorkam. Sie lag still und verlassen in der Dunkelheit, nur eine Katze sprang unter einem Karren mit zerbrochenem Rad hervor und verschwand unter einer verwilderten Hecke. Icherios betrachtete die alten Gebäude, die schief hängenden Fenster, bis es ihm wieder einfiel: Er hatte die Straße in Vallentins Tagebuch gesehen! Warum sein Freund sie wohl gezeichnet hatte? Es sah nicht so aus, als wenn es hier etwas Interessantes gäbe. Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte ihn auch nur die Trostlosigkeit, die dieser Ort ausstrahlte, gereizt. Trotzdem prägte er sich den Namen ein: Mansardengasse. Ein Blick zum Mond, der bereits ein Stück weiter gewandert war, erinnerte Icherios daran, dass er einen Termin hatte, und er eilte weiter, bis er die Heckengasse erreichte. Langsam schritt er auf die Kapelle aus gelbem Sandstein zu, die im Mondlicht glänzte. Ihr Eingang lag im Schatten eines tief heruntergezogenen Vordachs verborgen, welches von vier schlanken Säulen getragen im hinteren Teil in eine Kuppel überging. Ein großes Kreuz, einst das in den Himmel ragende Sinnbild des Glaubens an die Auferstehung Christi, hing nun kopfüber über der zweiflügeligen Tür. Alles wirkte alt und verlassen. Der junge Gelehrte blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen. Auf dem Boden konnte er die feuchten Umrisse von Schuhen ausmachen, also musste er wohl am richtigen Ort sein. Zögernd ergriff er den Knauf des linken Türflügels und zog ihn einen Spalt auf. Finsternis schlug ihm entgegen, gepaart mit dem intensiven Geruch von Fledermauskot. Icherios lauschte, aber er konnte keinen Laut vernehmen. Er hätte eine Laterne mitbringen sollen, schoss es ihm durch den Kopf, während er in die Schwärze starrte. Vorsichtig setzte er einen Fuß in die Grabkapelle. Nach einiger Zeit konnte er fahles Licht ausmachen, das durch die Löcher im Kuppeldach kam. Nachdem seine Augen sich noch etwas mehr an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Umrisse von morschen und von Kot bedeckten Bänken erkennen. Zu seiner Linken befand sich ein Altar, hinter dem ein einfaches Holzkreuz an die Wand genagelt war.
Icherios folgte den Fußspuren zu einer Tür neben dem Altar, wobei er sich bemühte, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Er ertappte sich dabei, wie er ängstlich die Luft anhielt. Wieso geriet er immer wieder in solche Situationen?
Vorsichtig öffnete er die Tür, die ebenso lautlos aufschwang wie das Eingangstor. Dahinter befanden sich eine kleine Kammer, die vermutlich als Vorbereitungsraum für die Priester gedient hatte, und eine breite Steintreppe, die in die unterirdischen Räume führte. Ein schwaches, gelbliches Licht war dort zu sehen, als wenn es von Fackeln käme. Dort musste Professor Crabbé sein. Icherios weigerte sich darüber nachzudenken, warum sie sich an solch einem Ort trafen.
Langsam stieg er die Treppen hinunter, bis er in eine Gruft kam. Sechs steinerne Särge säumten die Wand. Auf deren Deckeln ruhten marmorne Skulpturen von in fließende Gewänder gehüllten jungen Frauen. Dahinter befand sich eine große Tafel, auf der die Namen der Verstorbenen in goldener Schrift standen. Icherios lief es kalt den Rücken hinunter. Sie waren alle mit demselben Mann verheiratet gewesen und im Abstand von etwa zwei Jahren gestorben. Er fragte sich, was ihnen wohl zugestoßen sein mochte? Das Geräusch von sich nähernden Schritten holte den jungen Gelehrten aus seinen Gedanken. Suchend blickte er sich um. Licht drang aus einer Reihe von Öffnungen direkt unterhalb der Decke auf der gegenüberliegenden Seite. Sie lagen zu hoch für Icherios, um in sie hineinblicken zu können, und eine Tür war nicht zu sehen. Seine Hände fuhren tastend an der Wand entlang. Er konnte aber weder eine auffällige Wölbung noch eine Vertiefung fühlen. Verwirrt blieb er stehen und blickte an
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