Der Kraehenturm
sich dem Leichnam zu, den er untersucht hatte, und begann die aufgeschnittenen Organe von dem Tisch mit der Waage einzusammeln. Als er sie zum Obduktionstisch trug, rutschte ihm ein Stück des Herzens zwischen den Fingern durch und fiel auf den Boden. Er kniete nieder, um es aufzuheben, und erstarrte mitten in der Bewegung. Die Organe warfen keinen Schatten! Er konnte die klaren Umrisse jedes einzelnen seiner Finger in den flackernden Schatten erkennen, den die Kerze auf die Wand warf, dabei dürfte das eigentlich gar nicht sein. Man müsste doch nur den Schatten eines unförmigen Klumpens erkennen können! Das konnte nicht sein! Icherios hob das heruntergefallene Stück auf und eilte zum Obduktionstisch. Er hob den Arm des Mannes, und tatsächlich, auch dieser warf keinen Schatten. Wieso war das bisher niemandem aufgefallen? Was hatte das zu bedeuten? Es war physikalisch unmöglich, keinen Schatten zu haben! Voll Grauen betrachtete er den Toten. Was lag da vor ihm? Was das wirklich ein Mensch?
Icherios trat einige Schritte zurück. Was sollte er nun tun? Crabbé informieren? Er würde ihn für verrückt erklären oder auf Dinge stoßen, die für normale Menschen nicht bestimmt waren. Dafür gab es ja eigentlich den Ordo Occulto, doch wem durfte er trauen? Er musste zuerst mehr erfahren, bevor er jemanden einweihte. Mit angehaltenem Atem ging er zu der Leiche zurück. Er fühlte sich beobachtet. Etwas war in den Raum eingedrungen, aber als er sich umblickte, konnte er nichts sehen. Nur die Flammen der Kerzen wurden immer kleiner, als ob sie langsam ersticken würden. Der Glanz wich aus dem Raum, wurde ersetzt von dämmriger Dunkelheit. Mit einem unguten Kribbeln im Rücken drehte und wen dete Icherios die Leiche und deren Organe, bis er sicher war, dass kein Teil davon einen Schatten besaß. Schließlich nähte er den Körper zu, reinigte die Instrumente und begann Blut und Gewebereste vom Boden zu wischen. Dabei verließ ihn nie das Gefühl, beobachtet zu werden. Außerdem ließ ihn das seltsame Verhalten der Kerzen immer wieder den Atem stocken. Die Morgendämmerung näherte sich, als er endlich fertig war. Er löschte eine Kerze nach der anderen. Beim Hinausgehen schweifte sein Blick prüfend über die Tische. Alles war sauber und ordentlich aufgereiht. Doch auf einmal konnte er sehen, wie sich etwas in der Ecke bewegte. Seine Hand, die eine Kerze hielt, fing zu zittern an. Der Schatten selbst schien zum Leben zu erwachen und schoss plötzlich auf Icherios zu. Mit einem Aufschrei stolperte er nach vorne, warf die Tür zu und betätigte die geheime Verriegelung. Kein Geräusch erklang aus dem Inneren. Hatte er es sich nur eingebildet? Da fielen ihm die Schlitze an der Decke ein. Ängstlich wie eine Maus in der Falle wandte er den Kopf. Dunkle Schatten strömten aus den Öffnungen und sammelten sich auf dem Boden. Icherios grauste, ohne zu zögern stürmte er die Treppe hinauf. Ihm war es egal, ob er ihr Versteck verriet, als er die Kapellentür hinter sich zuwarf, und so schnell ihn seine Beine trugen zum Magistratum zurückrannte. Immer wieder blickte er sich um. Was war das gewesen?
Icherios stand mit zitternden Fingern und klopfendem Herzen vor dem Magistratum und öffnete eine Tür nach der anderen. Bei allen Überlegungen zur Sicherheit hatte wohl niemand bedacht, dass auch jemand mal schnell ins Innere flüchten können müsste, um dort Schutz zu suchen. Immer wieder blickte er über seine Schultern, beobachtete jeden Schatten, zuckte bei jeder Bewegung zusammen.
Endlich drehte sich der O-Schlüssel, und die letzte Tür schwang auf. Hastig warf er eine Tür nach der anderen hinter sich zu, schloss sie sorgfältig ab und lehnte sich schließlich schwer atmend mit dem Rücken gegen die Wand.
Beklommen betrachtete er die Schatten, die in jeder Ecke lauerten. Ihm war nie zuvor bewusst gewesen, dass es ebenso viel Dunkelheit wie Licht gab. Der Drang, mit jemandem über den lebendigen Schatten und die schattenlose Leiche zu sprechen, wurde immer stärker, doch wem konnte er davon erzählen? Er mochte Franz, aber der war zu sehr in den Ordo Occulto verstrickt. Und auch wenn er Auberlin gerne glauben wollte, blieb doch ein Rest an Zweifel. Trotz seiner Angst zwang er sich, sein Verlangen nach Laudanum zu unterdrücken und sich ins Bett zu legen. Nach einiger Zeit fiel er tatsächlich in einen von Albträumen beherrschten Schlaf.
20
In den Straßen Heidelbergs
G
6. Novembris, Heidelberg
A ls Icherios kurz vor
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