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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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meinen Angelegenheiten raus!«
    Wäre die See in die eigenen Hallen des Tattoos eingedrungen, wäre das eine Injurie zu viel gewesen und das Tattoo hätte ihr, koste es was es wolle - und die Kosten eines Krieges gegen ein Element waren enorm - den Krieg erklärt. Bomben wären in die Fluten geschleudert worden und hätten in dem Nichts unter traumatisierten Wogen Löcher hinterlassen. Solemordende Gifte. Und selbst wenn das Tattoo nicht hätte gewinnen können, so hätte das Interesse der See und die Verletzung der Neutralität doch dafür gesorgt, dass der Krieg sich ausgeweitet hätte.
    Aber niemand würde den Angriff auf die verschmähten, weithin abgelehnten Nazis als Einmischung betrachten, also würde das Tattoo keine Verbündeten finden. Das war der Nachteil, wenn man Schwarze Männer beschäftigte. Was auch der Grund dafür war, dass die See diese Vorgehensweise riskiert hatte. Die Leute wussten zweifellos, dass sie dort gewesen war, obwohl sie gewissenhaft jedes Salzwassermolekül aus den Höhlen unter dem Pflaster, den ozeanischen Grotten, zurückgeholt hatte, aber niemand gab zu, etwas zu wissen.
    »Sagt mir, was Euch dazu veranlasst hat«, rief das Tattoo. »Tritt rückwärts zu«, wies er den Körper an, auf dem er prangte, und der Mann gehorchte tollpatschig. Doch der Tritt landete weder an der Tür noch sonstwo. »Kommt mir noch einmal in die Quere, und es herrscht Krieg«, sagte das Tattoo. »Auto«, herrschte es dann den Körper an, und der Mann ging mit steifen Bewegungen zum Wagen. Das Tattoo zürnte, weil die See sich nicht hatte beeindrucken lassen. Nicht einmal das Tattoo kann die See beeindrucken, sagten die Leute später. Niemand wird je die See beeindrucken können. Diese Kunde wurde überall vernommen.
    Und noch ein mulmiger Taumel der Geschichte. Unmöglich zu beschreiben, ein Gestotter, ein Wechsel, und die Zeitlinie wurde auf einen neuen Kurs geprügelt, der unverändert aussah, roch und klang, sich aber nicht so anfühlte, nicht im Inneren. In den Wolken hing mehr von diesem eigenartigen Wahn, mehr Kampf, Erinnerung versus Endgültigkeit, verstrickt in einer himmlischen Prügelei. Und jeder einzelne Schlag wirkte bis in die Köpfe der Londoner hinein, fügte neu zusammen, was sich darin befand. Nur die Scharfsichtigsten konnten die Gründe für die kleinen Schläge, die Verwirrung und den Sprachverlust wenigstens teilweise erfassen: Das alles waren Aspekte eines Krieges.
    Marge war inzwischen ausreichend selbst Teil dieses Hinterlands geworden, dass sie es spürte. Ihr Kopf war voll von plötzlichem Vergessen und schlagartigem Erinnerungsverlust.
    Für sie war dies bereits eine letzte Nacht. Verärgert über und erschöpft von all den Unmöglichkeiten hatte sie, zu deren großer Verwunderung, auf den jüngsten Lockruf einiger ihrer Freunde reagiert. Eine kleine Gruppe aus einer der Galerien, in denen sie ausgestellt hatte - zwei Männer und zwei Frauen, die gemeinsam unter einem Kollektivbegriff auftraten, die »Erschöpften«, ein Name, den sie sich auf der Basis gemeinsamer Nöte zugelegt hatten. Marge war aufgrund ihrer Kunst einst als Sympathisantin gehandelt worden, als Semierschöpfte, als Etwasmüde.
    Ihre Kollegen meldeten sich nicht mehr bei ihr, aber der eine oder andere Erschöpfte rief alle paar Tage bei ihr an und versuchte sie auf einen Drink oder ein Abendessen herauszulocken oder zum Besuch der Ausstellung eines Konkurrenten zu überreden, über den sie sodann gemeinsam spotten könnten. »Es ist wirklich schön, dich zu sehen«, sagte eine Frau namens Diane. Sie fertigte Werke aus eingeschmolzenen Plastikstiften. »Ist Ewigkeiten her.«
    »Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Marge. »Tut mir leid. Ich habe wie verrückt geschuftet.«
    »Dafür musst du dich nicht entschuldigen«, sagte Bryn. Er malte Porträts in dicke Bücher, die er nach dem Zufallsprinzip aufschlug. In Marges Augen war seine Arbeit nichts als Scheiße.
    Sie hatte angenommen, sie würde an diesem Abend das Gefühl haben, nur eine Rolle zu spielen. Aber der Streifzug von einem affigen Club zum anderen zog sie zurück in das Leben, das sie längst verloren geglaubt hatte. Nur ganz vage vermeinte sie, sich selbst zuzusehen, während sie an Tattoostudios, Buchhandlungen und billigen Restaurants vorüberzogen. Polizei und Feuerwehr rasten unter Sirenengeheul in kolossaler Eile an ihnen vorbei.
    »Hast du was von Dave gehört?« Die anderen fragten sie nach Leuten, an die sie sich kaum erinnern konnte. »Was

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