Der Kranich (German Edition)
Suchtmittelmissbrauch.“
„Ich denk drüber nach. Jetzt wollte ich aber noch mit dir über …“
Ein wissendes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Dein Aspie?“
„Was mir im Moment Sorgen macht, sind seine instabilen Bindungen. In den letzten Monaten hat sich seine Tendenz zur Isolation wieder verstärkt. Ich hatte schon geglaubt, er wäre bereit, sich einem Studium zu stellen …“
„Du hast aber erwähnt, dass es durchaus enge Beziehungen gibt.“
„Das stimmt. Es gibt einen Schulfreund, mit Sicherheit die stabilste Beziehung. Außerdem seit letztem Jahr eine Freundin, über die ich nicht viel weiß. Und dann ist da noch …“ Er zögerte.
„Ja?“
„Es gibt eine Figur, die in Andeutungen auftaucht, aber eine ernstzunehmende Bedeutung zu haben scheint.“
„Und die du als wahnhaft interpretierst.“
„Ja.“
„Hast du ihn damit konfrontiert?“
„Ja. Ich vermute, dass er sich auf einer halbbewussten Ebene durchaus darüber im Klaren ist. Er kommuniziert aber trotzdem weiterhin mit ihr.“
Karin Kutscher runzelte die Stirn. „Lass ihm Zeit. Wenn du sie ihm nimmst, solange er sie noch braucht, könntest du ihn in gefährlicher Weise destabilisieren – du hattest erwähnt, er sei phasenweise suizidal gewesen …“
„Er ist es noch. Davon bin ich umso mehr überzeugt, als er in diesem einen Punkt nicht ehrlich zu mir ist.“
NYX
Synchronizität:
„Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.“
Carl Gustav Jung;
Gesammelte Werke
, Bd. 8, S. 497.
4
Thomas Lamprecht warf einen kritischen Blick in den Garderobenspiegel. An seinen zerfallenen Gesichtszügen hatte sich in den nunmehr acht Tagen, die er sich in Freiheit befand, wenig geändert, Judiths üppiger Küche zum Trotz, aber der Anzug konnte sich sehen lassen. Grimmig zog er die schwarze Krawatte zurecht. Ein bisschen etwas von Beerdigung hatte sein Outfit schon – wer weiß, vielleicht würde es ja eine werden. Aber bestimmt nicht seine! Er strich das mittlerweile schüttere Haar nach hinten, bis es fest am Kopf anlag, dann wandte er sich ab.
Es war Samstagvormittag und Judith war mit Nina in die Stadt gefahren, um einige Besorgungen zu machen. So konnte er sich in aller Ruhe auf sein bevorstehendes Meeting vorbereiten. Er ging ins Wohnzimmer, wickelte die Rasierklingen aus der Folie, in der sie verpackt waren, und begann, sie vorsichtig auf alle Taschen seines nagelneuen taubengrauen Zweireihers zu verteilen. Rasierklingen haben den Vorteil, flach zu sein. Und scharf. Mit einem Fluch zog Thomas Lamprecht seine rechte Hand aus der Gesäßtasche und konnte gerade noch verhindern, dass das Blut, das entlang seines Zeigefingers floss, auf die Hose tropfte. Er lief in die Küche, wusch die Hand im Spülbecken ab und durchstöberte die Schränke nach Pflaster. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er endlich im Badezimmer welche fand. Hektisch kleisterte er den Finger zu, der unangenehm zu pochen begann, in derselben Weise, wie es schon seit geraumer Zeit in seinem Kopf zu pochen begonnen hatte.
Er atmete durch, legte eine kristallfarbene Kugel in die kleine Glaspfeife, hielt das Feuerzeug darunter und nahm mehrere tiefe Züge.
Dann verließ er das Haus.
Draußen war noch immer Winter, die B14 war laut und schmutzig wie immer, und noch immer stand er auf der Verliererseite. Doch einen kleinen Hoffnungsschimmer gab es, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern würde. Und dieser Hoffnungsschimmer befand sich in einem unscheinbaren, senfgrün angestrichenen Haus in Vaihingen. Warum er davon überzeugt war, vermochte er selbst nicht zu erklären. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er sich einbildete, einem Ausweg auf der Spur zu sein, der keinerlei Einsatz
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