Der Kranich (German Edition)
den Quelltext gesehen hatte, eine gewisse Neugier nicht mehr abschütteln konnte.
„Ich muss dich enttäuschen. Es greift immer noch nicht.“
Ermutigend klopfte Ralf dem Freund auf die Schulter. „Du wirst es schaffen.“
„Wenn es möglich ist.“
„Was meinst du damit?“
„Du weißt verdammt gut, was ich damit meine.“
Seufzend ließ Ralf sich auf dem Sessel nieder. Diskussionen dieser Art waren bekanntermaßen lang und ermüdend, und es war Samstagabend …
„Hey, ich dachte, wir ziehen ein bisschen um die Häuser. Du siehst aus, als könntest du frische Luft gebrauchen!“
„Nein, ich glaube nicht. Nicht heute.“
Wieder spürte Ralf das Aufflackern eines unangenehmen Gefühls in der Magengegend, bemühte sich jedoch, es zu unterdrücken. Es war Samstagabend!
„Was ist mit Eva? Kommt sie noch runter?“
„Denke nicht.“ Lukas’ Blick war nach wie vor starr auf den Monitor gerichtet.
Allmählich wurde Ralf bewusst, dass er seine Vorstellungen vom weiteren Verlauf des Abends revidieren musste. Seufzend begab er sich in die Küche, nahm sich eine Club-Mate aus dem Kühlschrank und ließ sich schicksalsergeben wieder im Sessel nieder.
„Also gut“, sagte er. „Erzähl mir was.“
„Du solltest dein Handy auf UMTS umstellen. Aus Sicherheitsgründen.“
„Bist du jetzt unter die Phreaker gegangen?“
„Versuchsweise.“
„Verdammt, ich hab ein iPhone, das kann man nicht so einfach auf reine UMTS-Nutzung umstellen. Dazu müsste ich es erst mal modifizieren. Außerdem halte ich das für Paranoia.“
„Richtig. Ich hätte fast vergessen, dass dein Guru Steve Jobs heißt.“
„Also, was ist los?“
„Such dir ein Stockwerk aus.“
Blitzartig schoss Ralf die aufregende Rothaarige durch den Kopf, die ihm schon mehrmals im Treppenhaus begegnet war. „Ich glaube – das Vierte.“
Ein vielsagendes Grinsen erschien auf Lukas’ Gesicht. „Okay. Na, dann schauen wir doch mal, ob im Vierten gerade jemand telefoniert.“
Nicht ohne Stolz nahm er seinen selbst gebauten IMSI-Catcher in Betrieb. Dazu stöpselte er den Anschluss einer programmierbaren Funkhardware an sein Notebook an und richtete die Antenne aus. Im Handumdrehen landete eine ansehnliche Datenmenge auf seiner Festplatte. „Nein. Funkstille im Vierten, aber im Sechsten ist dafür umso mehr los.“
Ralf warf einen Blick auf den Monitor. „Sie sind verschlüsselt.“
„Die 64-Bit-Verschlüsselung ist lächerlich. Alles, was du brauchst …“, Lukas gab einige Befehle über die Tastatur ein, „… ist die entsprechende Freeware … und voilà!“
„OpenBSC?“
„OpenBTS.“
Um das Telefonat vom gekaperten Handy per VoIP zum gewünschten Gesprächspartner weiterzuleiten, verband er noch rasch sein Smartphone mit dem Notebook.
„Ein klassischer MITM-Angriff“, kommentierte Ralf.
„Right.“
Gebannt lauschten sie dem folgenden Gespräch, das sich nun in vollendeter Klangqualität durch die zugeschalteten Lautsprecherboxen vernehmen ließ. Es waren zwei Männerstimmen, beide klangen gereizt und latent aggressiv.
„Bei dieser Menge will ich aber mit der Quelle direkt verhandeln.“
„Kommt nicht infrage. Sie verhandeln mit mir oder gar nicht.“
„Dann platzt unser Geschäft. Ich gehe auf keinen Fall noch mal ein solches Risiko ein.“
„Ein ähnliches Preis-Leistungsverhältnis wie bei uns bekommen Sie im ganzen süddeutschen Raum kein zweites Mal.“
„Das kann ja sein, aber ich vertraue Ihnen nicht mehr. Ich will Ihren Chef sprechen.“
„Vergessen Sie’s. Er spricht nie mit Kleinkunden.“
„Also gut. Mein letztes Angebot: Ihr Chef soll mir einen fähigen Mittelsmann besorgen. Wenn ich innerhalb von achtundvierzig Stunden keinen akzeptablen Gesprächspartner an die Strippe kriege, hat sich die Sache erledigt.“ Ein Knacken – das Gespräch war beendet.
Lukas begann zu lachen. „Siehst du, so schnell kann das gehen! Wenn ich jetzt ein gesetzestreuer Bürger wäre, würde ich den da oben …“
„Wenn du ein gesetzestreuer Bürger wärst, hättest du ihn gar nicht erst abgehört.“
„Also, ich muss sagen – Respekt! Das hätte ich diesem spießigen Bankertypen im Traum nicht zugetraut. Ich wette, der versorgt die halbe Belegschaft mit Schnee.“
„Man soll die Leute eben nie nach ihrem Äußeren beurteilen.“
„Jedenfalls hast du jetzt gesehen, was los ist. Wenn du die Nummer kennst, ist es sogar noch einfacher. Du brauchst die Verschlüsselung dann nicht mal zu knacken, sondern
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