Der Kranich (German Edition)
vierundvierzig Kilometer, die zwischen Tübingen und Stuttgart liegen, als es geschah. In einer Kurve, die zudem in einer kleinen Senke lag, brach der Wagen plötzlich aus. Reflexartig trat Eva auf die Bremse und steuerte verzweifelt gegen, bekam die Kontrolle über das Fahrzeug jedoch nicht zurück. Der Käfer schlingerte, drehte sich einmal um die eigene Achse und kam schließlich entgegen der Fahrtrichtung zum Stehen. Entsetzt blickte sie in den grellen Schein sich rasend schnell nähernder Scheinwerfer, ohrenbetäubend heulte die Hupe des LKWs auf, der im letzten Moment auswich und haarscharf an ihr vorbeidonnerte.
Am ganzen Körper zitternd startete sie den Wagen, der nun wieder festen Grund unter den Reifen hatte, neu und steuerte ihn auf den Seitenstreifen.
Eine halbe Stunde später stand sie, noch immer zitternd und kreideweiß, vor Lukas.
„Ist was passiert?“
„Halt mich einfach nur fest.“
Er tat es, und wie gewöhnlich versank alles andere im Nebel der Bedeutungslosigkeit.
„Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?“
„Nein … bitte schlaf mit mir.“
Während man, am Boden stehend, nur die graue Fassade des gegenüberliegenden Hauses sehen konnte, und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, weit unten ein kleines Stück der Rosenbergstraße, überblickte man von knapp unter der Zimmerdecke den Stadtteil Botnang bis hoch zum Bärenkopf. Tagsüber. Jetzt tönten die Lichter des Stuttgarter Westens den Raum in weiches, milchiges Ocker.
Fröstelnd schmiegte Eva sich an Lukas. „Was bedeute ich dir, Luke?“
„Weißt du das nicht?“
Sie schüttelte den Kopf und tauchte in die Unergründlichkeit seines Blickes ein. „Wenn wir zusammen sind, habe ich oft das Gefühl, dass du … nicht wirklich anwesend bist, ich meine, dein Körper ist da, aber du …“
„Mehr kann ich dir nicht geben, Evita.“
„Ist es das Programm? Ist es wirklich so wichtig, dass alle Menschen in deinem Leben bedeutungslos werden?“
„Es ist nicht das Programm … Hey, hat Ralf deinen Wagen wieder flott gekriegt heute früh?“
Eva hatte nicht die Absicht, auf sein offensichtliches Ablenkungsmanöver einzugehen. „Er denkt das auch.“
„Was denkt er auch?“
„Dass du zu viel allein bist. Du bist so verdammt gut in dem, was du machst, mit dem Informatik-Abschluss könntest du …“
Ruckartig richtete Lukas sich auf. „Hör auf. Das hab ich dir doch schon erklärt.“
„Erklär’s mir noch mal.“
„Wenn ich an die Uni gehe, verrate ich alles, woran ich glaube, weil ich autoritäre Strukturen grundsätzlich ablehne. Jede Form von Herrschaft, die Menschen über Menschen ausüben. Sieh mich an. Willst du wirklich, dass ich meine Seele ans Establishment verkaufe?“
Wieder glitt Evas Blick aus dem Fenster. Sie liebte es,
downtown
zu sein. Man konnte das Leben spüren, das sich jenseits der Mauern abspielte. „Establishment – ist das nicht ein Schlagwort aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts?“
„Es hat absolut nichts von seiner Aktualität eingebüßt.“
„Aber die Achtundsechziger haben doch auch aus den Unis heraus agitiert.“
„Das stimmt. Aber wir haben nun mal nicht mehr 1968. Politischer Aktivismus läuft heute anders.“
„Du meinst, indem man sich in die Institutionen des Establishments reinhackt?“
Lukas lachte, und kleine Grübchen zeigten sich dabei auf seinen Wangen. Mit einem schmerzhaften Stich nahm Eva wahr, wie verliebt sie war – und wie unerreichbar er immer sein würde.
„Ja, zum Beispiel.“
„Hat dir die Aktion mit der
National Asset and Credit
im letzten Jahr nicht genug Ärger eingebracht?“
„Wieso Ärger? Im Endeffekt waren sie mir so dankbar, dass ich ihr Sicherheitsleck aufgedeckt habe, dass ich nur mit Mühe einer Festanstellung entgangen bin.“
Nun war es Eva, die gegen ihren Willen lachen musste. „Du willst sagen, du bist mit Mühe einem Knastaufenthalt entgangen.“
„Das kommt auf dasselbe heraus. Eigentum ist Diebstahl, Evita, und wir leben in einer Zeit des Monopolkapitals.“
„Ich glaube, Proudhon hat das Eigentum an Produktionsmitteln gemeint.“
„Und was für eine Art Eigentum, denkst du, ist es, das sich in den internationalen Großkonzernen konzentriert?“
Eva gab auf. Sie kannte Lukas erst ein paar Monate. Nach ihrer ersten stürmischen Begegnung hatte es nicht lange gedauert, bis sie im Bett gelandet waren. Seither flüchtete er sich jedes Mal, wenn sie versuchte, ihm auf einer tieferen Ebene
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