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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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war. Er hatte bereits eine Entschuldigung auf den Lippen, als ihm bewusst wurde, dass das Zimmer leer war. Karin saß weder auf ihrem Stuhl hinter dem großen Mahagonischreibtisch noch auf einem der beiden Sessel, was mehr als ungewöhnlich war, zumal ihr Zimmer unverschlossen war. Gustav Elvert versuchte, die Bedeutung dieser irritierenden Tatsache zu analysieren, während sein Blick über die mit psychiatrischer Fachliteratur vollgestopften Regale glitt, doch für weitere Überlegungen blieb ihm keine Zeit mehr, denn in diesem Augenblick stürmte seine Supervisorin durch die Tür.
    „Tut mir wirklich leid, Gustav, aber ich bin aufgehalten worden.“
    Elvert atmete durch. Seit seinem ersten Termin mit ihr hatte sie noch nie eine Sitzung abgesagt oder zu spät begonnen. „Ein Notfall?“
    „Setz dich doch. Eine unserer stationären Patientinnen hat sich auf der Toilette die Pulsadern aufgeschnitten – nein, nein, es geht ihr soweit gut. Der Notarzt will sie trotzdem ins Marienhospital bringen – sicherheitshalber.“
    „Wenn du unseren Termin lieber verschieben möchtest …“
    „Kommt nicht infrage. Wie ist deine kleine Auseinandersetzung von letzter Woche ausgegangen?“
    Umständlich nahm er ihr gegenüber Platz und versuchte mit der Tatsache umzugehen, dass sie seinen mühsam ausgearbeiteten Plan umwarf, noch bevor er den ersten Satz ausgesprochen hatte. Das heikle Thema Jürgen Roth hatte er eigentlich für den heutigen Tag ausgeklammert – doch nun kam er nicht daran vorbei. Erwartungsgemäß wurde er für den verschobenen Termin gerügt. Wie die Auseinandersetzung tatsächlich ausgehen würde, war weiterhin offen. Aber es gab andere Problematiken, die seine Aufmerksamkeit erforderten, daher ging er unverzüglich zum nächsten Tagesordnungspunkt über.
    „Ich habe einen neuen Klienten, den mir die Bewährungshilfe vermittelt hat. Wir hatten erst eine Stunde, aber er ist offensichtlich schwer traumatisiert. In der Kindheit durch einen gewalttätigen Vater, und die Gefängniserfahrung hat natürlich noch etwas draufgesetzt. Er vertraut mir noch nicht genug, um wirklich etwas rauszulassen, aber meiner Einschätzung nach wäre er überhaupt nicht haftfähig gewesen.“ Elvert seufzte. „Ich wünschte, die Gesellschaft würde endlich erkennen, was sie den Menschen da antut.“
    Karin Kutscher lehnte sich in ihrem Sessel zurück und musterte ihn mit dem ihr typischen, gleichzeitig sanften und ernsten Ausdruck. „Was schlägst du als Alternative vor? Irgendeine Sanktionsmöglichkeit braucht der Staat nun mal.“
    „Um sich selbst zu legitimieren? Ich weiß nicht … In einer weniger repressiven Form des Zusammenlebens vielleicht nicht. Wir wissen doch beide, dass der Ursprung jeglichen Totalitarismus der autoritäre Charakter ist.“
    „Du bist und bleibst ein Utopist. Was deinen Klienten angeht – ziehst du emdr in Erwägung?“
    „Er würde enorm davon profitieren, das steht außer Frage. Aber ob er sich jemals so weit auf mich einlässt …? Momentan bin ich schon froh, wenn ich ein paar ehrliche Antworten bekomme. Und natürlich konsumiert er weiter, was mich in einen Konflikt mit der Bewährungshilfe bringt.“
    „Der zweifellos zu seinen Gunsten ausfallen wird. Das Problem mit den ‚geschickten‘ Leuten ist nicht leicht zu lösen. Ich hatte selbst unlängst einen solchen Fall. Eine Frau, die nur auf Geheiß ihres Ehemannes hier war, nicht aber aus ihrer eigenen freien Entscheidung heraus. Ich kam wochenlang nicht an sie heran. Deine einzige Chance besteht darin, in deinem Kunden eine eigene, authentische Motivation für Veränderung zu evozieren. Was ist seine Substanz?“
    „Crack.“
    Sie nickte vielsagend. „Na dann – viel Glück!“
    Eine Pause entstand, und Gustav Elvert strich nachdenklich über seinen Dreitagebart.
    „Deine … ‚geschickte‘ Patientin – wie ging die Sache aus?“
    „Sie hat abgebrochen und wird weiterhin sich selbst und ihre Familie mit ihrer Symptomatik zugrunde richten … Oh, bevor ich’s vergesse: Das Symposium wird am Samstag in vierzehn Tagen stattfinden. Hast du dir schon Gedanken über dein Thema gemacht?“
    Einen Augenblick hatte Elvert Mühe, dem abrupten Themenwechsel zu folgen „Ach ja … so bald … nein, ehrlich gesagt noch nicht.“
    „Wie wär’s mit: ‚Episodischer Verlust der Impulskontrolle in der Borderline-Phänomenologie‘? Ich würde gerne etwas über die autoaggressive Symptomatik hören, speziell im Zusammenhang mit

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