Der Kranich (German Edition)
von Gewalt erforderte. Thomas Lamprecht war nämlich kein gewalttätiger Mensch. Um genau zu sein: Er verabscheute jede Art von Gewalt. Eine zuweilen unpraktische Tatsache, der er unter anderem seinen ausgedehnten Aufenthalt in Stammheim verdankte, doch nun ging es nicht mehr nur um ihn selbst. Und um Judith und Nina zu beschützen, war er bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
Mit noch immer pochendem Finger stieg er am Charlottenplatz in die U7 um und war kurz darauf am Ziel.
Der Killesberg mit seinem Höhenpark, seinem Höhenfreibad, dem „Perkins Park“ und zahlreichen weiteren Attraktionen war und ist einer der exklusivsten Stuttgarter Stadtteile, vielleicht sogar der exklusivste. Das El Salvadorianische Konsulat gehört zu den weniger bedeutenden Sehenswürdigkeiten. Thomas Lamprecht hatte weder einen Blick für die bestechende Skylineaussicht noch für die beeindruckende Architektur und schon gar nicht für die Luxuskarossen, die die Straße säumten. Zielstrebig passierte er das Konsulat und hielt auf eine schneeweiße Villa zu, die, am Ende der Straße gelegen, einen vergleichbar bedeutenden und gesicherten Eindruck machte.
Vor den meterhohen, schmiedeeisernen Toren, die den Weg zur Auffahrt versperrten, blieb er stehen und richtete den Blick auf eine der beiden Kameras, die sich über seinem Kopf befanden. Über Briefkasten und Klingel befand sich nur ein großes, vergoldetes B.
Die Prozedur, die folgte, nachdem er den Knopf gedrückt hatte, kannte er zu gut, als dass sie ihn noch hätte beeindrucken können. Barranquillas Sheriffs, Mr. Yes und Mr. No, wie sie sich lächerlicherweise nannten, kamen die Auffahrt heruntergetrabt, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn in die marmorgeflieste Eingangshalle, wo er erst einmal gründlich gefilzt wurde. Aber Rasierklingen sind ja bekanntlich klein und flach und beim Abtasten nicht zu spüren. Daraufhin bekam er einen Drink angeboten und wurde allein gelassen. Nach einer Pause, die Bedeutung vermitteln sollte, ließ sich der Hausherr schließlich dazu herab, die Treppe herunterzukommen. Am Ritual hatte sich nichts geändert.
Auch Barranquilla hatte sich nicht verändert. Er pflegte noch immer den sonnengebräunten, goldkettchenbehängten Dandylook, obwohl dieser dem vergangenen Jahrhundert angehörte. Sein Gesicht wirkte, nach ein paar weiteren Liftings, vielleicht noch einen Tick maskenhafter als früher.
Während Thomas Lamprecht Barranquilla gegenübertrat, ließ er lässig die Hände in die Hosentaschen gleiten. Vorsichtig, um sich nicht erneut zu verletzen, nahm er die beruhigende Kühle der Klingen wahr. Die Sheriffs waren bis auf Weiteres abgetreten, doch zweifellos lauerten sie hinter einer der Milchglastüren. Ins Allerheiligste eintreten zu dürfen, war ein Privileg, das nicht vielen Besuchern eingeräumt wurde, und Thomas Lamprecht fragte sich zum wiederholten Mal, aus welchem Grund ihm diese Ehre wohl zuteil geworden war, damals, vor fast auf den Tag genau fünf Jahren.
„Sieh an, welch seltener Gast in meinem Haus. Du hast ja gar nichts zu trinken. Unverzeihliche Nachlässigkeit meiner Leute!“ Damit steuerte der, der sich Barranquilla nennen ließ und vielleicht irgendwann einmal Kolumbianer gewesen war, vielleicht aber auch nicht, eine gut bestückte Bar in der Ecke der Halle an und ließ geräuschvoll ein paar Eiswürfel in ein Glas fallen. „Was trinkst du?“
„Deine Jungs fürs Grobe sind ja inzwischen fast erwachsen geworden.“
„Tja, wie die Zeit vergeht! Also du trinkst nichts? Auch gut. Aber ich nehme einen Scotch, wenn es dich nicht stört. Ich nehme an, du bist gekommen, um mir zu bringen, was mir gehört?“
Lamprechts Finger krampften sich auf den flachen Seiten der Rasierklingen fest. „Nein.“
Erstaunt wandte Barranquilla sich um. „Wie bitte?“
„Du hast mich schon verstanden. Was sollte diese unschöne Geschichte von letzter Woche? Hm? Ich hatte dir gesagt, du kriegst dein Geld. Warum musst du meine Familie da reinziehen?“
„Ich hielt es für angemessen, meiner Forderung etwas Nachdruck zu verleihen.“
„Wenn deine durchgeknallten Schläger Judith oder dem Kind noch einmal auch nur ein Haar krümmen …“
„Ich würde vorschlagen, du denkst erst nach, bevor du weitersprichst – du willst mir doch nicht etwa drohen, oder?“
„Nein.“
„Das ist auch besser so. Sehen wir uns doch die Situation einmal ganz nüchtern an. Du schuldest mir zehntausend Euro oder zweihundert Gramm feinstes
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