Der Kranich (German Edition)
zufällig die Bekanntschaft eines der führenden Köpfe im lokalen Kokaingeschäft gemacht, dessen Geschäftsspektrum noch einiges mehr umfasste, und der seine herausragende Stellung innerhalb des organisierten Verbrechens mit den entsprechenden Methoden zu verteidigen wusste. Thomas Lamprecht war zunächst als unbedeutender Straßenverkäufer auf die Lohnliste gesetzt worden, mit der Zeit jedoch in immer verantwortungsvollere Positionen aufgestiegen, bis er so etwas wie die rechte Hand des Paten von Stuttgart geworden war. Seine Aufgabe bestand fortan ausschließlich darin, besondere Geschäftskunden aus Jetset-Kreisen zu beliefern.
„Sie würden sich wundern, wen ich da so alles in Vier-Sterne-Hotelsuiten angetroffen habe!“
Elvert lehnte dankend ab, weitere Details diesbezüglich zu erfahren.
Nach einer recht erfolgereichen Zeit in seinem neuen „Beruf“, der unbestreitbare Vorteile gegenüber seiner vorangegangenen Tätigkeit als Schwerlastverkehrsfahrer hatte, war Lamprecht jedoch in zunehmendem Maße durch seinen eigenen Konsum in Schwierigkeiten geraten, und es war ihm immer schwerer gefallen, zwischen realen und imaginären Bedrohungen zu unterscheiden. Schließlich war er bei einer Routineübergabe mit einer Zweihundertgrammlieferung in die ausgebreiteten Arme der verdeckten Rauschgiftfahndung gelaufen und hatte sich, nachdem er alle Angebote einer Zusammenarbeit ausgeschlagen hatte, hinter den weißgetünchten Stahlbetonmauern einer geschichtsträchtigen Justizvollzugsanstalt wiedergefunden.
„Spätestens in dem Moment, in dem sie dir die Kleider nehmen, nehmen sie dir alles“, schloss Thomas Lamprecht seinen Bericht, dessen zunehmende Offenheit Gustav Elvert erstaunte. „Man ist dann kein Mensch mehr. Man ist ein Tier.“
„Kein Mensch ist dazu in der Lage, einem anderen seine Würde zu nehmen.“
„Würde ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Ich habe gelernt, dass es zwei Sorten von Menschen gibt: Die mit Geld und Macht – und die anderen.“
Eine Pause entstand, und Elvert strich nachdenklich über seinen Dreitagebart. Dann sagte er bedächtig: „Haben Sie schon einmal etwas vom sogenannten
Schmetterlingseffekt
gehört?“
Da sich im Gesicht seines Gegenübers keinerlei Reaktion zeigte, sprach er weiter. „Der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Norton Lorenz stellte einmal, um die Vorhersagbarkeit des Wetters zu veranschaulichen, die folgende Frage in den Raum: ‚Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?’ Der Hintergrund für diese Metapher ist die Tatsache, dass komplexe Systeme die erstaunliche Eigenschaft besitzen, sich durch kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen exponentiell zu verändern. Dies kann zur Folge haben, dass ein völlig neuer Zustand entsteht.“
Thomas Lamprecht reagierte noch immer nicht, schien jedoch aufmerksam zuzuhören.
„Was ich sagen will, ist Folgendes: Menschliche Gesellschaften sind ohne jeden Zweifel komplexe, instabile Systeme. Das Verhalten jedes einzelnen Individuums innerhalb dieses Systems hat nachweislich – im Positiven wie im Negativen – Auswirkungen auf das Verhalten des Gesamtsystems. Auswirkungen, die es im Extremfall sogar zum Kippen bringen können – in die eine oder andere Richtung.“
Zum ersten Mal zeigte sich in den Augen seines Klienten eine deutliche Reaktion. Eine, die Elvert mit „Betroffenheit“ beschrieben hätte.
Beim Verlassen des Sprechzimmers wie auch bereits während der ganzen langen Therapiestunde widmete Thomas Lamprecht dem Zustand der Tür besondere Aufmerksamkeit. Doch egal wie lange er sie fixierte, es ließ sich nicht daran rütteln, dass sie fachmännisch repariert worden war. Das gesamte Schloss samt Klinke war ausgetauscht worden, und die vorangegangene Beschädigung ließ sich höchstens noch erahnen. Außerdem fügte sich die Türkante wieder nahtlos in den Rahmen ein – die Diskretion der psychotherapeutischen Beziehung war wieder in vollem Umfang gewährleistet.
Thomas Lamprechts anfängliche Enttäuschung über diese Tatsache wich jedoch einer schlagartigen Euphorie, als er, während er am Wartezimmer vorbeiging, einen flüchtigen Blick auf den nächsten Klienten erhaschte. Konnte es sein, dass das Glück ausnahmsweise einmal auf seiner Seite war? Eilig, um seinerseits nicht gesehen zu werden, nahm er seinen Mantel vom Haken und verließ, ohne ihn anzuziehen, das Haus.
Draußen erhielt seine Euphorie einen
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