Der Kranich (German Edition)
unverblümter Art und Weise vorgeworfen, in einer kurzsichtigen Firmenpolitik das IPO durchzupeitschen, obwohl man kaum der Start-up-Phase entwachsen war. Zweifellos hatte Avaleet, das Entwicklung und Publishing unter einem Dach vereinte, mit seinen innovativen Spielfiguren erhebliches Potenzial am Markt, aber nicht, wenn es durch ein fehlerhaftes Management seine Cashflow-Situation leichtfertig unterminierte – so Pross’ Credo, von dem sich Weber jedoch nicht im Mindesten hatte beeindrucken lassen.
Die Konferenzräume befanden sich im dritten Stock.
Ebenso nüchtern und sachlich, wie sich die Örtlichkeit präsentierte, eröffnete Gerhard Weber am Montagmorgen die Sitzung. Flankiert wurde er von Mario Pross und dem Leiter der Entwicklungsabteilung, Karl-Heinz Emmerich. Der gesamte aus weiteren fünf Mitgliedern bestehende Vorstand hatte sich um den ovalen Kirschbaumholztisch versammelt und blickte ihn erwartungsvoll an.
Weber breitete einige Papiere vor sich aus und begann, die Quartalszahlen bekanntzugeben. Eine Viertelstunde später lehnte er sich lächelnd in seinem Sessel zurück.
„Ich kann zusammenfassend also die überaus erfreuliche Nachricht an Sie weitergeben, meine Dame, meine Herren, dass Avaleet die Talsohle nachhaltig überschritten hat und sich wieder auf einem guten Weg befindet. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass wir bereits in diesem Jahr schwarze Zahlen schreiben werden. Noch heute wird eine Pressemitteilung herausgegeben, die sämtlichen Übernahmegerüchten eine klare Absage erteilt.“
„Heißt das, dass die Indizierung von Sniper zurückgenommen worden ist?“ Die Frage kam von einem übergewichtigen Mittdreißiger am anderen Ende des Tisches.
„Noch nicht, aber die BPjM hat ein neues Prüfverfahren eingeleitet. Außerdem haben wir ja nicht nur Sniper. Partisan III hat sich zuletzt überraschend gut am Markt platziert …“
„Das mag ja sein“, warf ein anderes Vorstandsmitglied ein, ein dünner Mann, etwa Ende Vierzig, „aber die Entwicklungskosten von Sniper waren derartig desaströs, dass wir die Einführung einfach brauchen, um uns langfristig …“
„Sniper wird freigegeben werden“, entgegnete Weber energisch. „Es ist nur eine Frage der Zeit.“
Die einzige Frau in der Runde schüttelte zweifelnd den Kopf. „Jetzt? Nach Winnenden? Die Scharfmacher gegen die Ego-Shooter waren doch noch nie so sehr auf dem Vormarsch wie jetzt. Killerspiele! Die BPjM kann doch gar nicht mehr unabhängig entscheiden. Das ist längst ein Politikum.“
„Und bis vor ein paar Jahren war der Jazz noch jugendgefährdende Negermusik“, gab Weber unbeeindruckt zurück. „Jede Kunstform muss sich erst etablieren.“
Zum ersten Mal meldete sich Karl-Heinz Emmerich zu Wort, ein unauffälliger Mann mit kränklich bleichem Gesicht und einer kleinen, runden Brille. „Winnenden wird aus dem öffentlichen Bewusstsein ebenso schnell wieder verschwunden sein wie Columbine.“ Ein verächtlicher Unterton mischte sich in seine Worte. „Sniper kommt und wird die Produktionskosten am ersten Wochenende einspielen. Abgesehen davon arbeiten wir bereits an der Nachfolgeversion. Ich möchte mich hier nicht zu Interna der Entwicklungsabteilung äußern, aber ich verrate wohl nicht zu viel, wenn ich sage, dass wir dabei sind, eine völlig neue Generation von Spielfiguren zu kreieren. Frei gestaltbar. Avatare, wenn Sie so wollen. In diesem Genre ist das eine Innovation, die uns ohne Weiteres auf Augenhöhe mit Valve bringen könnte.“
Während der letzten Worte wurde seine Stimme zusehends heiser, er hustete, zog hastig ein Spray aus der Jackentasche und inhalierte mehrere tiefe Züge.
„Nun ja, wir wollen den Ball mal schön flach halten“, warf Mario Pross, der mit Abstand Jüngste der Anwesenden, ein. „Ich hatte die Ehre, Gabe Newell persönlich kennenzulernen und ziehe immer noch ohne zu zögern den Hut vor ihm – aber ich gebe Herrn Emmerich insofern recht, als wir uns vor niemandem in der Branche verstecken müssen.“
Es wurden noch einige Details erörtert, die auf eine Straffung der Produktionsabläufe abzielten, bevor Gerhard Weber die Sitzung schließlich für beendet erklärte. Nachdem alle anderen den Raum verlassen hatten, nahm er eine Karaffe und drei Gläser aus dem Wandschrank und wandte sich seinem Stellvertreter und Karl-Heinz Emmerich zu.
„Meine Herren, ich glaube, dieser Moment verdient einen edlen Tropfen. Auch wenn das letzte Wort der BPjM noch nicht gesprochen
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