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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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herben Dämpfer, als ihm eisiger Wind entgegenschlug und ihm klar wurde, dass er nun erst einmal wenigstens fünfzig Minuten in der Kälte stehen würde. Hastig streifte er den Mantel über, während allmählich ein anderes, nicht weniger unangenehmes Gefühl Besitz von ihm ergriff. Er suchte sich einen strategisch günstigen Platz an der gegenüberliegenden Straßenecke, von dem aus er den Hauseingang im Auge behalten konnte, ohne selbst unangenehmen Blicken ausgesetzt zu sein. Seine Position zu verlassen, um später wiederzukommen, kam nicht infrage – dafür war diese Gelegenheit zu kostbar und die Zeit zu knapp. Er durfte keinerlei Risiko eingehen.
    Die folgenden fünfzig Minuten gehörten zu den längsten in Thomas Lamprechts bisherigem Leben. Während die Kälte sich langsam aber unerbittlich in jedes freie Stückchen Haut biss – und davon gab es viele, denn er hatte weder eine Mütze noch einen Schal und schon gar keine Handschuhe bei sich – hallten die Worte der vergangenen fünfzig Minuten nicht weniger schmerzhaft durch seinen Kopf. Wie, so fragte er sich, hatte es ihm passieren können, dass er einem vollkommen Fremden, noch dazu einem Psycho, so viel über sich erzählte? Natürlich gab es an den Fakten nichts zu verheimlichen, die waren hinlänglich dokumentiert, aber das war es nicht. Auf eine unerklärliche, beinahe unheimliche Art und Weise hatte dieser Kerl es geschafft, ihm
persönliche
Dinge zu entlocken. Ein gefährlicher Fehler, der sich unter keinen Umständen wiederholen durfte! Das nächste Mal würde er sich besser vorbereiten.
    Doch egal wie grimmig er sich auch dagegen wehrte, während seine Finger in den Manteltaschen eine bläuliche Färbung annahmen – die Geschichte über den Schmetterlingseffekt erzeugte in seinem Inneren eine neuartige, ungewohnte Resonanz.
    „Wie alt waren Sie zu diesem Zeitpunkt?“
    „Ich muss fünf gewesen sein. Ich war noch nicht in der Schule.“
    „Erzählen Sie von Ihrer Zeit in Tarascon-sur-Ariège.“
    „Ich bin nicht sicher. Erinnerungen sind nichts Objektives. So frühe schon gar nicht. Falls es so etwas wie Vergangenheit überhaupt gibt …“
    „Hier und jetzt geht es ausschließlich um Ihre persönliche Realität. Ihre Gefühle, Ihre Gedanken, Ihre Erinnerungen. Das ist die einzige Wahrheit, mit der wir uns beschäftigen. Und sie ist in jedem Fall berechtigt.“
    „Die Hunde. Klarer als an alles andere kann ich mich an die Hunde erinnern. Die Straßen waren voll von ihnen. Überall liefen streunende Hunde herum. Ganze Rudel. Es waren liebe Tiere. Sie waren zutraulich und ließen sich streicheln. Sie hatten Hunger und froren. Sie waren so dankbar für ein kleines bisschen Zuwendung. Meine Mutter war ungeduldig, wenn sie mich nicht von ihnen wegbekam. Ich wollte sie alle mitnehmen.“
    „Wo war das genau?“
    „Ein winziges Kaff mitten in den Pyrenäen. Südlich von Toulouse, keine fünfundzwanzig Kilometer von der spanischen Grenze entfernt.“
    „Warum waren Sie dort?“
    „Meine Mutter unterrichtete an einer französischen Schule. Das hat sie ziemlich oft getan. Immer irgendwo anders. Sie war ein Mensch, der sehr gerne reiste.“
    „Dagegen ist nichts zu sagen. Mit einem kleinen Kind sieht das allerdings etwas anders aus.“
    „Tagsüber war ich in dieser école maternelle, einer Art Vorschule. Ich weiß nicht mehr, ob es Wochen waren oder Monate. Mir kam es jedenfalls vor wie Jahre. Die Erzieherinnen waren wirklich rührend. Ich glaube, ich tat ihnen ziemlich leid. Leider konnten sie sich nicht mit mir verständigen. Nach kurzer Zeit sprach ich fließend französisch, aber am Anfang konnte ich nur zwei Worte.
Faire pipi
. Da sie nicht mit mir sprechen konnten, demonstrierten sie mir ihr Mitgefühl dadurch, dass sie mich ständig abküssten. Ich muss wohl einen ziemlich elenden Eindruck gemacht haben. Die Kinder waren mit sich selbst beschäftigt und ignorierten mich einfach.“
    „Wie war das für Sie?“
    „Das Ignoriertwerden war jedenfalls besser zu ertragen als das Abgeküsstwerden.“
    „Und am Abend wurden Sie von Ihrer Mutter abgeholt?“
    „Ja. Nur dass ich daran nie glaubte. Ich dachte, sie wollte mich nicht mehr haben.“
    „Das müssen verdammt lange Tage gewesen sein.“
    „Die Erzieherinnen versuchten verzweifelt, mich irgendwie zu beschäftigen. Am Vorschulunterricht konnte ich mich nicht beteiligen. Ich konnte nicht lesen oder irgendwas schreiben – also versuchten sie es mit Malen. Aber ich hatte keine Lust

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