Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
Vom Netzwerk:
dazu. Meistens starrte ich den ganzen Tag über aus dem Fenster auf die Straße. Nur wenn ich den Hunden nahe sein konnte, war ich glücklich.“
    „Wo haben Sie zu dieser Zeit gewohnt?“
    „Wir hatten ein winziges Zimmer, das modrig roch. Es war nicht viel mehr Platz darin als für die beiden Betten. Ich konnte oft nicht schlafen. Ich tat, als schliefe ich, und wagte nicht, mich zu bewegen. Ich wollte ihr nicht zur Last fallen …“
    „Sie gab Ihnen Medikamente. Beruhigungsmittel.“
    „Ich weiß nicht mehr, wann das anfing. Ob es in dieser Zeit war. In dieser Zeit kann ich mich nicht an Medikamente erinnern. Erst etwas später. Ungefähr als ich eingeschult wurde.“
    „Was geschah weiter in Tarascon?“
    „Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam. An irgendeinem Tag hielt eine der Erzieherinnen es wohl nicht mehr aus, mich traurig vor meinen von der Staffelei tropfenden Wasserfarben stehen zu sehen, und sie brachte mir diese verdammt merkwürdig aussehende Kiste. Es war ein unförmiges Ding aus Plastik und Metall, und es hatte diese vielen spannenden Knöpfe.“
    „Lassen Sie mich raten …“
    „Es war ein ausgedienter 1984er Macintosh. Fragen Sie mich nicht, wo der herkam. Ist auch nicht wichtig – für mich war er ein Geschenk der Götter. Es war wohl sofort klar, dass man endlich etwas gefunden hatte, um mich abzulenken. Ich beschäftigte mich eingehend mit jedem verdammten Knopf auf der Tastatur, und keiner achtete mehr auf mich. Natürlich funktionierte der Mac nicht mehr und war auch nicht ans Netz angeschlossen, also wurde mir die Tatsache bald sehr lästig, dass er nicht reagierte. Egal wie viel ich auch drückte – es geschah nichts. Und irgendwann trieb ich dann diesen Schraubenzieher auf. Ich glaube, das Innenleben dieses Macintosh war für mich nicht nur eine Offenbarung – es war eine Überlebensfrage. Die Erzieherinnen waren zwar geschockt, als sie sahen, was ich mit dem Gerät anstellte, aber da es nicht gefährlich war, ließen sie mich machen. Als wir nach Deutschland zurückkehrten, hätte ich einen Mac im Schlaf bauen können – mit dem entsprechenden Material, versteht sich.“
    „Gut. Sie hatten also etwas gewonnen. Aber Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt.“
    „Der wäre?“
    „Ich denke, Sie verloren in dieser Zeit Ihre Kindheit.“
    „Sie hat es nicht getan, um mich zu verletzen.“
    „Aber sie hat es getan.“
    „Ich mache ihr keinen Vorwurf. Sie hat es nicht gemerkt. Ich glaube, sie hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst von ihren Gefühlen abgeschnitten. Das ist nichts Spektakuläres. Die meisten Menschen sind von ihren Gefühlen abgeschnitten, und sie sind sich dessen nicht bewusst. Eine Ausnahme machen wahrscheinlich nur diejenigen, die ihre Gefühle als Arbeitsmaterial brauchen. Künstler. Vielleicht auch Psychotherapeuten. Aber längst nicht alle.“
    „Sie hat sich das Leben genommen, nicht wahr?“
    Stille.
    „Wie hat sie es getan?“
    Stille.
    „Haben Sie sie gefunden?“
    Stille.
    „Ich denke, es wäre wichtig für Sie, darüber zu sprechen.“
    Stille.
    „In Ordnung. Was war nach Tarascon?“
    „Eine Zeit lang hatte ich ständig diese … Angstzustände. Ich konnte nicht schlafen. Sie brachte mich zu einer Kinderpsychologin, aber die konnte nichts feststellen und schickte uns wieder nach Hause. Danach bekam ich oft dieses Beruhigungsmittel. Aber die Angst blieb. Sie wurde zu einem Teil von mir.“
    Die Dämmerung brach herein, schließlich war es fast dunkel, als sich endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, die Tür des senfgrünen Häuschens öffnete und der Hübsche auf die Straße trat.
    Thomas Lamprecht war dankbar für die Dunkelheit. Sie erleichterte sein Vorhaben erheblich, denn im Beschatten hatte er nun wirklich keinerlei Erfahrung. Bedächtig, in angemessenem Abstand, folgte er seiner Zielperson durch die belebte Möhringer Landstraße. Das Glück schien weiterhin auf seiner Seite zu sein, denn der junge Kerl stieg in kein Auto ein, sondern hielt auf die U-Bahn-Station Schillerplatz zu.
    Sie fuhren Richtung Stadtmitte. Lamprecht war einen Wagen hinter dem Jungen eingestiegen und hatte ihn zu seinem Entsetzen im feierabendlichen Gedränge am Charlottenplatz für einen Moment aus den Augen verloren. Bange Minuten verstrichen, in denen er nicht wusste, ob der andere ausgestiegen war oder sich noch in der Bahn befand. Bevor Lamprecht noch eine bewusste Entscheidung treffen konnte, schlossen sich die Türen bereits wieder, und der

Weitere Kostenlose Bücher