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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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Charlottenplatz flog vorbei. Staatsgalerie. Er reckte den Hals weit nach draußen und erspähte ihn auf dem Bahnsteig, Sekunden bevor sich die U-Bahn-Türen abermals schlossen. Thomas Lamprecht sprang hinaus und folgte ihm hinüber zur U9. Er fragte sich, wohin die Fahrt wohl gehen mochte, während sie in Richtung Botnang einstiegen. Schlossplatz, Hauptbahnhof. Abermals wurde es schwierig zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden, doch Aufgeben kam nicht infrage. Im Westen leerte sich die Bahn allmählich, und an der Arndt-Spittastraße stieg der Hübsche endlich aus. Wenige Minuten Fußweg folgten, dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Vor einem ansehnlich renovierten Altbau blieb der junge Kerl stehen, zog den Schlüssel aus der Hosentasche und verschwand durch die Haustür.
    Thomas Lamprecht näherte sich dem Haus und notierte in seinem Gedächtnis die Adresse. Rosenbergstraße 76. Dann blickte er an der Fassade nach oben und sah, wie kurz darauf im fünften Stockwerk das Licht eingeschaltet wurde. Er versuchte noch, zum Hinterhof zu gelangen, musste jedoch feststellen, dass dieser von der Straße aus nicht zugänglich war. Das war’s. Für diesen Tag hatte er genug gearbeitet!
    Ohne den gepflegten, stuckverzierten Fassaden des Westens einen weiteren Blick zu widmen und ohne an den blätternden Putz in der Cannstatter Straße zu denken, machte Thomas Lamprecht sich vollkommen durchgefroren auf den Heimweg.
    Als ich nach Hause kam, war sie schon da. Das erstaunte mich ein wenig. Es war nicht ihre Zeit.
    Ich warf die Jacke irgendwohin und schaltete, ohne sie zu beachten, den Computer ein. Ich versuchte mich auf den Zahlenwirrwarr zu konzentrieren, der vor meinen Augen flimmerte, doch ich spürte, dass sie mich beobachtete. Dr. Elverts Worte tanzten in meinem Kopf wie die Symbole vor mir auf dem Desktop. Es schien unmöglich, irgendeinen Sinn, irgendeine Art von Ordnung hineinzubringen, und obwohl der Abend noch nicht einmal begonnen hatte, fühlte ich mich erschlagen.
    Sie sagte nichts, doch sie beobachtete mich. So, wie ich schon die ganze Zeit beobachtet worden war, seit ich Dr. Elverts Praxis verlassen hatte. Oder vielleicht schon länger? Ich vermochte es nicht zu sagen.
    „Werde ich verrückt, Maya?“, hörte ich mich sagen, doch genau genommen war nicht ich es, der fragte, die Frage schien von irgendwoher zu kommen, sie klang hohl wie aus einem Grab heraus.
    „Nein. Du wirst nicht verrückt, Bro. Hat dein Shrink dir das nicht gesagt? Du bist nur völlig überarbeitet. Vielleicht solltest du akzeptieren, dass du dein Problem mit dem Quine nicht lösen kannst.“
    „Eher sterbe ich, bevor ich aufgebe! Aber das ist es nicht.“ Es tat gut, mit ihr zu sprechen. Sie saß still und reglos auf dem Sessel, auf dem Ralf sonst immer saß. Da es die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer war, gab es auch nicht viele Alternativen. Sie saß dort, und ich saß vor meinem Notebook auf dem Boden. Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte, doch ich sah sie an. Wieder schienen ihre dunklen Augen Mitgefühl auszudrücken.
    „Was ist es?“
    „Ich hatte heute auf dem Nachhauseweg das Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Bin ich so überarbeitet, dass ich an Wahnvorstellungen leide?“
    „Vielleicht liegt es ja daran, dass du tatsächlich verfolgt worden bist.“
    „Machst du dich über mich lustig?“
    „Vertraust du mir noch immer nicht, Luke Skywalker? Habe ich dir schon irgendwann einmal die Unwahrheit gesagt?“
    „Wer ist es?“
    „Wenn ich dir das sage, wirst du mir wieder nicht glauben.“
    „Wer ist es, Maya?“
    „Es ist
Darth Vader
.“
    Um Punkt achtzehn Uhr klappte Martin Beier die Akte zu, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Das war ungewöhnlich. Zu seiner Rechten und Linken stapelten sich zahlreiche weitere ungelöste Fälle, und an normalen Tagen verließ er das Büro am Abend nicht vor acht Uhr. Das hatte den zusätzlichen Vorteil, dass der Abend, den er seit sechs Jahren fast immer allein in seinem Einzimmerappartement in Bad Cannstatt verbrachte, nicht unüberschaubar lang war. Meist ging er dann früh schlafen, hatte Alpträume von erstochenen Prostituierten und zerstückelten Jugendlichen und saß vor dem Frühstück bereits wieder an seinem schlichten Holzschreibtisch im Stuttgarter Polizeipräsidium.
    Doch dies war kein normaler Tag. Er war mit seiner Tochter verabredet. Sie versuchten, sich regelmäßig an einem Abend in der Woche zum Essen zu treffen, aber es klappte nicht immer. Eva hatte Prüfungen

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