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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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ist – Avaleet ist gestärkt aus der härtesten Krise seiner jungen Geschichte hervorgegangen. Die Zukunft gehört ohne jeden Zweifel Sniper II!“
    Nach der Mittagspause kehrte Gustav Elvert in seine Praxis zurück, hängte die Jacke an die Garderobe, stellte die Türverriegelung um und setzte sich an seinen Computer. Obwohl er das obere Stockwerk des Hauses, das er auf Kredit gekauft hatte – und wofür er sich erheblich verschuldet hatte – als Privatwohnung nutzte, ging er mittags selten nach oben. Wozu auch? Niemand wartete dort auf ihn, niemand kochte ihm Essen, nicht einmal ein Hund wollte gefüttert werden. Er seufzte. Es war bestimmt nicht seine Entscheidung gewesen, dass die Dinge sich auf diese Weise entwickelt hatten, aber es war nun einmal so. Wahrscheinlich gab er tagaus tagein im Erdgeschoss so viel, dass für das obere Stockwerk einfach nichts mehr übrig blieb.
    Während er zusah, wie sich quälend langsam der Desktop auf seinem Monitor aufbaute, wischte er die melancholischen Gedanken beiseite. Das gehörte nicht hierher, denn die bevorstehende Stunde würde seine gesamte Konzentration erfordern. Er versuchte, die Akte Thomas Lamprecht zu öffnen, doch sein metallener Helfer schien noch nicht dazu bereit zu sein. Elvert seufzte abermals, und der Gedanke ging durch seinen Kopf, wie schnell Lukas Stegmann die lästigen Mucken des in die Jahre gekommenen Betriebssystems wohl behoben haben würde. Lukas, der an diesem Tag auf dem Sechzehn-Uhr-Termin eingetragen war … Auch dieser Gedanke war nicht ganz neu und wurde ebenso unwirsch beiseite geschoben. Seine Klienten kamen schließlich, um von
ihm
Hilfe zu erfahren und nicht umgekehrt!
    Endlich ließ sich das Programm starten, und Elvert überflog die Notizen, die er sich nach der ersten Stunde mit seinem neuen Kunden gemacht hatte.
Anamnese abschließen
stand rot markiert darunter. Er hatte gerade noch Zeit, sich eine provisorische Strategie zurechtzulegen, als er auch schon das Klappen der Eingangstür vernahm. Die Uhr zeigte exakt drei. Kein schlechtes Zeichen! Er wartete noch eine Höflichkeitsminute, um seinem Gast Zeit zu geben, den Mantel abzulegen und bat ihn dann herein.
    Thomas Lamprecht wirkte nicht minder verschlossen und abweisend als eine Woche zuvor, obwohl er sichtlich darum bemüht war, höfliche Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Es ist zu leicht, einem Menschen das Rückgrat zu brechen, schoss es Elvert durch den Kopf, gleichzeitig nahm er jedoch erleichtert zur Kenntnis, dass kein gebrochener Mann vor ihm saß. Jedenfalls nicht vollkommen.
    Eine Therapiesitzung gleicht in vieler Hinsicht einem Schachspiel. Schon in der ersten Minute entscheidet sich der Spieler für eine Farbe – dadurch, dass er das Angebot zur Eröffnung annimmt oder ausschlägt. Lukas Stegmann entschied sich in der Mehrzahl der Fälle für weiß. Thomas Lamprecht, wie in dieser Phase nicht anders zu erwarten war, für schwarz. Gustav Elvert drehte das imaginäre Brett und eröffnete offensiv.
    „Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich an unser Gespräch in der letzten Stunde anknüpfen. Wir sprachen über Ihre Kindheit und Jugend, Ihre familiäre Situation und einiges andere. Damit ich mir ein vollständiges Bild machen und Ihnen möglichst optimal helfen kann, würde ich heute gerne etwas über die genaueren Umstände erfahren, die zu Ihrer Verhaftung geführt haben.“
    „Das steht doch sicher alles in den Berichten, die Sie bekommen haben.“
    „Selbst wenn ich Unterlagen zu Ihrer Person bekommen hätte, was nicht der Fall ist, hätte ich sie nicht gelesen. Das hätte die Unvoreingenommenheit beeinträchtigt, mit der ich Ihnen gegenübertreten möchte.“ Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Elvert, Erstaunen in den Augen seines Gegenübers aufflackern zu sehen, doch sofort war es wieder erloschen und machte der Leere Platz, die zuvor da gewesen war.
    „Was genau wollen Sie wissen?“
    „Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was Ihnen spontan einfällt. Es muss nicht chronologisch oder vollständig sein. Erzählen Sie mir von der Zeit unmittelbar vor Stammheim.“ Und
in
Stammheim, hätte er am liebsten hinzugefügt, doch dafür war es definitiv zu früh. Er musste endlich lernen – und hier war es ganz besonders wichtig –, seine Ungeduld zu zügeln.
    Nach und nach gelang es Gustav Elvert, aus den sprunghaften, ungeordneten Aussagen eine zusammenhängende Geschichte zu bilden.
    Einige Jahre zuvor hatte sein Klient demnach eher

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