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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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auf die Uhr und ärgerte sich darüber, dass ihr für den Besuch bei Lukas nicht allzu viel Zeit blieb, wenn sie die letzte S-Bahn nach Echterdingen noch erwischen wollte, doch sie schob das Gefühl beiseite. Hätte sie es zugelassen, so hätte sie ebenfalls die Frage zulassen müssen, warum sie mit der Bahn und nicht mit dem Auto unterwegs war. Dann hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie es in den letzten Tagen, wann immer es möglich war, vermieden hatte, mit dem PKW zu fahren, und abends akribisch den Wetterbericht studierte. An der frostigen und gefährlichen Situation auf den Straßen schien sich bis auf Weiteres jedoch nichts zu ändern. Angst? Nein! Luke hätte sie ausgelacht!
    Sie fand ihn in keiner guten Verfassung vor. Er war offensichtlich völlig übermüdet, dazu in ungewohnter Weise nervös, darüber konnte auch der Papierschwan nicht hinwegtäuschen, mit dem er sie empfing.
    „Was macht dein Notebook? Ging es besser?“
    Eva setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch, ließ den kleinen Schwan zwischen den Brotkrümeln auf der Tischdecke schwimmen und versuchte, eine gewisse Ordnung in die unterschiedlichen Fragen und Antworten zu bringen, die sich in ihrem Kopf überlagerten. Lukas’ Denkstrukturen folgen zu wollen, war zwar ohnehin aussichtslos, doch mehr als jemals zuvor hatte sie an diesem Tag das Gefühl, eine Verbindung zu ihm herstellen zu müssen, wenn sie ihn nicht verlieren wollte.
    „Er ist wunderschön … Ja, es geht besser. Ich hatte keinen Absturz seit letzter Woche. Wie hast du das gemacht?“
    „Es war nichts Bedeutendes. Ich hab nur einen Trojaner gescannt und unschädlich gemacht. Aber du solltest ab und zu mal die Registry säubern. Ich hab dir ein Programm installiert, damit geht das praktisch von allein. Und dann solltest du …“
    „Ich weiß. Ich sollte mir ein paar ernsthafte Gedanken über mein Betriebssystem machen. Aber im Moment hab ich einfach nicht die Zeit, mich da reinzuknien … Luke – was ist los?“
    Wortlos und ohne sie anzusehen verschwand er im Zimmer, lehnte am Fenster und starrte auf die Straße hinunter. Eva folgte ihm.
    „Nichts. Ich komme nicht weiter, das ist alles.“
    „Das ist nicht alles.“
    Er sah sie kurz an, umschloss seine linke Hand mit der rechten, blickte wieder in die Dunkelheit hinaus.
    „Dieses … Programm … ich glaube, du nennst es
NORT
– was bedeutet das eigentlich?“
    Lukas sprach aus dem Fenster hinaus, mehr zu sich selbst, er schien sie kaum wahrzunehmen. „Non Official Rumor Transmitter.“
    Obwohl ihr nicht danach zumute war, musste Eva lachen. „Was?“
    „Oder vielleicht Night Over Roscrea Town. Oder New Orleans Recedes Totally … nein, das ist zynisch. Vielleicht Never Open Red Telephones – das wäre dann die Phreaker-Version.“
    „Also geht es nicht um die Bedeutung. Es geht um die Buchstaben an sich. Ist es eine Art Code oder so?“
    „Sie haben keine Bedeutung. Hast du … Kalle mal wiedergesehen?“
    Eva seufzte. Das alte Thema. Sicher, die Umstände ihrer ersten Begegnung waren nicht ideal gewesen, aber das war vorbei. Lukas und Kalle hatten sich gekannt, ohne echte Freunde zu sein. Und Lukas wusste nicht alles. Er kannte Kalles dunkle Seite nicht. Er urteilte, ohne die Fakten zu kennen, doch das ging auf ihr Konto. „Kalle ist in Stockholm, das weißt du doch.“
    Sie trat neben Lukas und folgte seinem Blick. Einzelne Passanten schlängelten sich wie Mäuse durch die Straßenschluchten. Er fühlte sich warm und stark an, sanft strich sein Atem über ihr Gesicht.
    „Warum vertraust du mir nicht? Willst du mich nur fürs Bett, ist es das?“
    „Ich versuche nur, dich zu schützen.“
    „Mich schützen – wovor?“
    „Vor denen, die das wollen, von dem sie denken, dass ich es habe. Sie wissen nicht, dass die Büchse der Pandora noch nicht einmal geöffnet ist.“
    Später, als Eva in Gedanken über Lukes Worte versunken die ausgetretenen Stufen im Treppenhaus hinabstieg, kam ihr ein hagerer Mann mittleren Alters entgegen. Ein Mann mit einem derartig nichtssagenden Allerweltsgesicht, dass sie sich später nur noch daran erinnern würde, dass ein dickes Pflaster um einen Finger seiner rechten Hand gewickelt war.
    Mit der Linken drückte Thomas Lamprecht auf den Klingelknopf im sechsten Stock. Er hatte bereits unten geklingelt, und es war geöffnet worden, doch nun, als er etwas atemlos im sechsten Stock angekommen war – Fahrstühle gab es in diesen alten Häusern natürlich nicht –, war

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