Der Kranich (German Edition)
– er hatte „Fälle“. Nachdenklich betrachtete er die Fotografie von ihr und ihrer Mutter, die seit jeher seinen Schreibtisch schmückte. Daran hatte weder die Scheidung etwas geändert noch sein Dienstumzug von dem tristen, angegrauten Gebäude in der Neckarstraße in das deutlich repräsentativere Domizil am Pragsattel. Er legte die Akte, mit der er beschäftigt gewesen war, sorgfältig auf einen der beiden Stapel zurück und wischte den unangenehmen Gedanken beiseite, ob es nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen sein könnte, von der eher beschaulichen Abteilung für Wirtschaftskriminalität zur chronisch überlasteten Mordkommission zu wechseln. Die viel gepriesene Strukturreform hatte ein Übriges getan! Damals, vor vier Jahren, hatte er versucht, der Eintönigkeit zu entkommen, vielleicht auch den Schuldgefühlen, die er seiner Tochter gegenüber empfand. Was die Eintönigkeit anging, hatte er im Gegensatz zu den Schuldgefühlen sogar Erfolg gehabt. Dafür plagten ihn jetzt Alpträume und ein beginnendes Magengeschwür.
Martin Beier stand auf, nahm seinen Mantel vom Haken an der Wand, schloss sein Büro von außen ab und verließ das langgezogene, weißgetünchte Gebäude in der Hahnemannstraße, das ursprünglich einmal ein Krankenhaus gewesen war und noch immer eher an ein Internat oder ein Gestüt erinnerte als an einen Übergangsknast mit integrierter zentraler Ausnüchterungseinheit.
Als er zwanzig Minuten später zum Café Königsbau kam, wartete Eva bereits ungeduldig vor dem Eingang. Er blickte sie an, und wie immer in der letzten Zeit überkam ihn dieses verwirrende Gefühl, eine Mischung aus Erstaunen und Stolz, dass aus seinem kleinen Mädchen eine so wunderschöne junge Frau geworden war. Sie trug eine beigefarbene, wadenlange Kapuzenjacke, die ihre zierliche Statur betonte, und das hellblonde Haar kurz geschnitten, mit viel Styling-Schaum darin. Haare schneiden konnte ihre Mutter, das musste man ihr lassen.
„Wie geht’s ihr?“ fragte er, während sie die Treppe hinaufstiegen und sich zu einem Tisch in dem chronisch überfüllten Raum durchkämpften. Eigentlich war es jedes Mal dieselbe Frage – vielleicht eine Berufskrankheit.
„Mama?“ erwiderte Eva, nachdem sie die Jacken abgelegt und sich gesetzt hatten.
„Mama. Ja, natürlich.“
„Sie arbeitet zu viel. So wie du wahrscheinlich auch.“
Martin Beier zog eine Lesebrille aus der Brusttasche seines Jacketts, setzte sie auf und warf einen Blick auf die Speisekarte, obwohl er sie längst auswendig kannte und sowieso immer dasselbe bestellte. Hawaiitoast und ein kleines Glas Rotwein, das ihm absolut nicht gut tat.
„Wie geht’s deinem Magen?“, war dann auch der unvermeidliche kritische Kommentar seiner Tochter.
„Nicht schlecht. Es geht schon.“
Obwohl sie immer ein gutes Verhältnis gehabt hatten, hatten sie einander nicht allzu viel zu sagen, und nachdem die üblichen Eingangsthemen, Gesundheit, Beruf, Studium, nach wenigen Minuten abgearbeitet waren, nahm Martin Beier mit Erleichterung seinen Toast in Empfang.
Etwas später, als sie beim Kaffee waren, wurde es ruhiger um sie herum, und er versuchte ein ernsthaftes Gespräch.
„Wie kommt Lukas mit seinem Programm voran?“
Eigentlich wusste er nicht wirklich, was es mit dem Programm auf sich hatte, an dem der neue Freund seiner Tochter Tag und Nacht arbeitete, aber er hatte ihn einmal kurz kennengelernt und keinen schlechten Eindruck von ihm gehabt. Etwas introvertiert vielleicht. Aber waren diese Computertypen das nicht alle? Auf jeden Fall schien er das genaue Gegenteil des Mannes zu sein, mit dem Eva vorher zusammen war. Unmerklich zuckte Martin Beier beim Gedanken an den ersten festen Freund seiner Tochter zusammen. Auch diesen hatte er nur flüchtig gekannt, doch das hatte gereicht, um ihn einzuordnen. Wie hieß er noch gleich? Ein schwedischer Name … Mikael … richtig, Kalle hatten sie ihn genannt. Was hatte er eigentlich in Deutschland gemacht? Auf den ersten Blick war er nicht unsympathisch gewesen, doch er gehörte zu so einer Motorradgang. Obwohl Martin Beier sich durchaus nicht zu den konservativen Vertretern seiner Zunft zählte, hatte ihm das nicht gefallen. Kalle hatte ein offensichtliches Alkoholproblem, und mit der Zeit war Martin Beier zu dem Schluss gekommen, dass er seine Tochter manchmal schlug. Noch bevor er eingreifen konnte, war es dann jedoch urplötzlich vorbei, und Lukas tauchte auf. Zu den genaueren Umständen dieses Wechsels schwieg
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