Der Kranich (German Edition)
die Wohnungstür verschlossen, also klingelte er abermals. Kleine Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, und die kamen nicht von der Anstrengung des Treppensteigens. Wenn ihn jemand gefragt hätte, hätte er nicht zu sagen vermocht, was sein Herz mehr zum Rasen brachte: Die Tatsache, dass er wieder einmal mit einem Hundertgrammpaket Kokain unterwegs war, oder dass er gerade ein Stockwerk tiefer an der Tür vorbeigegangen war, die sein allergrößtes Interesse erregte. Ein nahezu unglaublicher Umstand hatte ihn innerhalb kürzester Zeit nun schon zum zweiten Mal an diesen Ort geführt. Das konnte kein Zufall sein! Er versuchte, sich jedes Detail minutiös einzuprägen. Die Architektur des Treppenhauses, die zeitschaltuhrgesteuerte Deckenbeleuchtung, die Blonde, die aus der Wohnung des Hübschen gekommen war, wahrscheinlich seine Freundin. Man konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, was später wichtig sein würde.
Ein leises Klirren hinter der Wohnungstür ließ vermuten, dass die Sicherheitskette ausgehängt wurde, die Treppenhausbeleuchtung erlosch, die Tür öffnete sich.
Der Kunde war einer wie viele andere vor ihm. Ein aalglatter Juppietyp, Maßanzug und Rolex am Handgelenk – die war aber nicht echt. Nicht der Rede wert. Staunend sah Thomas Lamprecht sich jedoch in der umso bemerkenswerteren Wohnung um. Offenbar waren der sechste und der ehemalige siebte Stock, von außen nicht sichtbar, zu einer Maisonetteeinheit zusammengefasst worden. Ausstattung und Innenarchitektur ließen keinerlei Wünsche offen. Eine gigantische Fensterfront bot freie Sicht auf die großzügige Dachterrasse hoch über Stuttgarts Westen.
Thomas Lamprecht schätzte die Quadratmeterzahl und überschlug die monatlichen Mietkosten, wurde jedoch durch die zunehmende Nervosität seines Gegenübers fürs Erste von weiteren Überlegungen abgehalten. Er dagegen war nun die Ruhe selbst. Ohne dass er es gewollt hätte, stellte sich das altbekannte, triumphierende Gefühl ein. Macht war eine Droge, für die es kein Gegengift gab.
Der Verkauf war rasch abgewickelt. Thomas Lamprecht atmete erleichtert auf, als er die Ware los war. Auf seltsame Art und Weise hatte sie sich heiß in seiner Hand angefühlt. Mit einem dicken Bündel Scheine in der Manteltasche ging es ihm erheblich besser. Es war offensichtlich, dass der Kunde ihn nun so schnell als möglich wieder loswerden wollte, doch er hatte seine eigenen Pläne. Jetzt, da ein launisches Schicksal ihn einmal hergeführt hatte, würde er sich ganz bestimmt nicht unverrichteter Dinge wieder abwimmeln lassen. Zielstrebig steuerte er die Dachterrasse an und sah sich im Licht der draußen installierten Halogenfluter um.
Der Blick senkrecht nach unten ging direkt in den von der Straße aus nicht zugänglichen Hinterhof. Mülltonnen, Wäscheleinen und eine streunende Katze prägten das wenig glamouröse Bild. Das ungeduldige Gestotter seines Gastgebers ignorierend, blickte Thomas Lamprecht an der Hauswand hinab. Erwartungsgemäß stellte sich ein leichtes Schwindelgefühl ein. Höhen hatte er noch nie gemocht. Er zwang sich dazu, ruhig durchzuatmen und prägte sich die Gegebenheiten ein. Etwa drei Meter unter ihm befanden sich zwei kleinere Fenster, die zur Wohnung im fünften Stock gehören mussten, vermutlich Küche und Bad. Das Wohnzimmer ging nach vorne zur Straße hinaus und war von hier aus nicht einsehbar.
Über ihm, oberhalb der Maisonetteeinheit, befand sich das Dach mit dem Schornstein. Lamprecht ließ den Blick über die Hauswand gleiten, und es dauerte nur einen Augenblick, bis er gefunden hatte, was er suchte. Eine schmale, unscheinbare Leiter zog sich über mehrere Stockwerke hinweg zum Dach hinauf. Als Feuerleiter war sie viel zu klein, und sie machte auch keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck, vor allem reichte sie kaum bis auf die halbe Höhe des Hauses hinunter. Nein, was er hier vor sich sah, war ganz offensichtlich nichts anderes als ein antiquiertes, doch äußerst zweckdienliches Hilfsmittel, das es dem Schornsteinfeger ermöglichte, von den oberen Wohnungen aus aufs Dach zu gelangen. Und es war deutlich auszumachen, dass die Leiter bereits vom vierten Stockwerk aus bequem zu erreichen war.
Thomas Lamprecht verließ seinen sichtlich erleichterten Kunden und unterzog auf dem Weg hinunter das Treppenhaus einer kritischen Prüfung. Im zweiten und im vierten Stock gab es jeweils ein kleines Fenster, das zur rückwärtigen Seite des Gebäudes
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