Der Kranich (German Edition)
hinausging. Die Fenster waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Es war nicht einfach, vom Treppenhaus aus zu der kleinen Leiter zu gelangen, doch es war auch keineswegs unmöglich. Thomas Lamprecht hatte genug gesehen. Zufrieden in sich hineinlächelnd eilte er die restlichen Stufen hinunter, fand eine ruhige, unbeobachtete Straßenecke und zog sich eine großzügig bemessene Linie von seiner Kommission durch einen der Hunderteuroscheine, die sich in seiner Manteltasche befanden.
6
Gustav Elvert lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, blickte von seinem Computerbildschirm auf, hinauf zur Zimmerdecke, die dringend einen neuen Anstrich benötigte, dann wieder zurück auf den Monitor. Er ging die Notizen der letzten Sitzung mit Lukas durch, danach die der Supervision vom vergangenen Freitag, dann wieder umgekehrt. Schließlich stand er auf und ging zum Fenster. Er öffnete es und starrte hinaus in einen weiteren tristen, dunklen, kalten Januartag.
Allmählich verdichteten sich die fragmentarischen Einblicke, die Lukas ihm in seine Vorgeschichte gewährte, zu einem Bild. Skizzenhaft noch, mit einigen dunklen Stellen, aber dennoch – ein Bild. Vor dem Hintergrund seiner frühkindlichen Deprivationserfahrungen war Tarascon-sur-Ariège zweifellos ein Schlüsselerlebnis gewesen. Eines mit lebenslangen Folgen. Als hochbegabtes Kind war Lukas in erheblichem Maße sensibler und verletzlicher als seine Altersgenossen, mit der gesamten Tragik, die sich daraus angesichts eines ignoranten Umfeldes ergab. Doch er hatte eben andererseits auch erstaunliche Ressourcen, und die Tatsache, dass er diese einschneidende Erfahrung mit seinem Therapeuten geteilt hatte, konnte man unbestreitbar als einen Erfolg der gemeinsamen Arbeit bezeichnen.
Fröstelnd schloss Elvert das Fenster. Es war also keineswegs so, dass es keine Lichtblicke gegeben hätte. Wieder einmal war er am Ende einer anstrengenden Woche angekommen, und die beiden letzten Arbeitsstunden, die noch vor ihm lagen, waren angenehmer Art: Eine Sitzung mit seinem Lieblingsklienten und anschließend eine hoffentlich bereichernde und entlastende Supervisionsstunde. Doch, man konnte schon sagen, dass Elvert die Vorzüge des Freitagnachmittags zu schätzen wusste. Aber da war eine Kleinigkeit, die die positive Stimmung trübte – es war nicht Lukas’ Termin. Eigentlich war am Freitag um sechzehn Uhr Jürgen Roth dran, doch der hatte sich seit der verschobenen Stunde nicht gemeldet und war auch telefonisch nicht zu erreichen. Und Lukas war ein „Ein-Stunden-Klient“, und er war am Montag bereits da gewesen. Genau hier lag das Problem. Gustav Elvert hatte ihn am Ende der Sitzung gebeten, in dieser Woche ausnahmsweise zu einem zweiten Termin zu erscheinen. Er hatte Jürgen Roths Stunde vergeben, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst hatte, dass dieser sich weiterhin nicht melden würde, und er hatte sich noch nicht ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt,
warum
er Lukas diesen Zusatztermin angetragen hatte.
Ein Bauchgefühl. Irgendetwas hatte ihm gesagt, dass es richtig war. Natürlich würde Karin Kutscher eine derart schwammige Erklärung niemals durchgehen lassen. Sie würde seine Motivation zerpflücken wie ein Gänseblümchen. War es Sorge? Die wäre durch den aktuellen Verlauf nicht ausreichend begründet. Ein uneingestandenes Problem mit seiner Gegenübertragung vielleicht?
Erleichtert hörte er, wie die Eingangstür geöffnet wurde. Für den Augenblick konnte er die unangenehmen Fragen zurückstellen.
Er bot seinem Gast den üblichen Tee an und stellte fest, dass dieser entspannter wirkte als bei der letzten Sitzung. Als er mit der Teekanne aus der Küche zurückkam, bemerkte er einen kleinen Origami-Kranich auf dem Tischchen zwischen den Tassen.
„Der ist für Sie.“
Gustav Elvert nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn lächelnd. Er hatte schon immer etwas für diese schlichte, aber äußerst ansprechende Kunst übrig gehabt. Und er hatte Lukas darin bestärkt, den anderen kreativen Impulsen nachzugehen, die er jenseits seines Hacker- und Programmiererdaseins in sich spürte. Elvert war überzeugt davon, dass Lukas’ künstlerisches Potenzial sich keinesfalls auf die eher nüchterne Computerarbeit reduzieren ließ.
„Es ist gut, dass Sie sich wieder Zeit für diese Dinge nehmen. Oft bekommt man den Kopf frei, und überraschende Lösungen stellen sich ein, wenn man etwas ganz anderes tut. Was genau hat es mit dem Kranich eigentlich auf
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