Der Kranich (German Edition)
Eva sich aus, und es war nicht seine Art nachzubohren. Auf jeden Fall hatte er sich aber vorgenommen, diese Dinge in Zukunft genau im Auge zu behalten, umso mehr, als unübersehbar war, dass Eva rettungslos in Lukas verliebt war.
„Das Programm … ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber es ist im Moment das Wichtigste für ihn, so viel ist sicher.“
Das klang alles andere als glücklich, und er legte tröstend seine Hand auf ihren Arm. „Du musst der Sache Zeit geben. Weißt du, Jungs in diesem Alter … wissen manchmal noch nicht so ganz genau, was wirklich wichtig ist im Leben.“
Schweigend sah sie ihn an.
„Und manchmal wissen sie’s auch noch nicht, wenn sie ein ganzes Stück älter sind …“, fügte er leise hinzu.
Während Martin Beier die kostbaren Stunden mit seiner Tochter genoss, stieg Thomas Lamprecht an der Haltestelle vor dessen ehemaliger Dienststelle aus. Die „Metzstraße“ befand sich wenige hundert Meter von dem Haus an der B14 entfernt, in dem er nun wieder mit Judith und Nina wohnte. Den Heimweg war er zu sehr gewohnt, um sich in der eher ungemütlichen Gegend bewusst umzusehen, das mit Kameras gespickte Gebäude zu seiner Rechten nahm er kaum wahr. Zu viele Kameras, zu viele Gitter, zu viel Draht und Stahl hatte er schon gesehen! Diejenigen, die hinter den Kameras saßen, hätten sich jedoch sehr gewundert, hätten sie sehen können, was geschah, nachdem Thomas Lamprecht um die Ecke gebogen war.
Mit quietschenden Reifen hielt nämlich urplötzlich eine schwarze Limousine dicht neben ihm an, eine Tür flog auf, und ehe er auch nur Luft holen konnte, saß er bereits auf dem Rücksitz, während der Wagen kehrtmachte und über die Cannstatter Straße zurück in Richtung Innenstadt brauste.
Mr. No saß am Steuer und hatte sichtlich seinen Spaß, Mr. Yes, dessen eiserner Griff augenblicklich blaue Verfärbungen auf Thomas Lamprechts Arm erzeugte, kommentierte nur trocken: „Der
Boss
will dich sprechen.“
Der
Boss
befand sich in keiner leutseligen Gemütsverfassung. Die Absätze seiner weißen Cowboystiefel bohrten sich unwirsch in die Marmorfliesen, als er die Treppe herunterklackerte, das höfliche Eingangsgeplänkel entfiel.
„Ich brauche dich für eine Lieferung, Thomas.“
Mit einer gewissen Beunruhigung stellte Thomas Lamprecht fest, dass sich diesmal außer dem Glaspfeifchen nichts in seinen Taschen befand. Wenn schon nicht die reale, so war doch die psychologische Bedeutung von ein paar kleinen Metallklingen beachtlich. Breitbeinig baute er sich vor seinem einstigen Gönner auf, der ihn mit einem spöttischen Grinsen musterte.
„Ich dachte, wir wären uns einig gewesen.“
„Unvorhersehbare Entwicklungen. Wie ich dir ja schon erläutert hatte, habe ich momentan Personalprobleme. Ich bin dabei, einen wichtigen Kunden zu verlieren, und aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation kann ich mir das nicht leisten.
Eine
Lieferung. In den Westen. Du erhältst einen Extrabonus – aber heute Abend noch!“
Thomas Lamprecht holte Luft, um einen ebenso verzweifelten wie aussichtslosen Protestversuch zu starten, doch er kam nicht dazu, denn im selben Moment nannte Barranquilla die Adresse. Lamprecht erstarrte mit offenem Mund.
„Irgendein Problem damit?“
Er schüttelte wortlos den Kopf. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen, und, wer weiß, vielleicht war es ja sogar ein Glücksfall.
Gemächlich schlenderten Eva und Martin Beier über die untere Königstraße. Die Geschäfte hatten bereits geschlossen, die Vorstellungen der Theater und Kinos hatten schon begonnen, trotzdem war die Fußgängerzone selbst an diesem kalten und dunklen Januarabend noch belebt. Eva vergrub die behandschuhten Hände tief in den Jackentaschen und nahm die letzten Momente tröstlicher Anwesenheit des Vaters in sich auf, bevor sie sich am Hauptbahnhof trennten.
Ein bisschen Wehmut stieg in ihr auf, angesichts der Tatsache, dass dieser imposante kubische Klotz aus grauem Naturstein, ein Symbol ihrer Kindheit und eines der international bedeutendsten Bauwerke des frühen 20. Jahrhunderts, nun, im beginnenden 21. Jahrhundert, bald Vergangenheit sein würde. Vergangenheit, wie die beruhigende Kontinuität väterlicher Präsenz. Die Dinge waren im Fluss, ein Festhalten gab es nicht. Stuttgart 21, klingt wie Creme 21, dachte Eva erschaudernd und blickte ihrem Vater hinterher, wie er auf der Rolltreppe zur S-Bahn verschwand.
Mit der U9 bis Arndt-/Spittastraße waren es nur fünf Haltestellen. Eva sah
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