Der Kranich (German Edition)
sich?“
Lukas blickte an ihm vorbei, als er antwortete. „Derjenige, der tausend Origami-Kraniche faltet, bekommt von den Göttern einen Wunsch erfüllt.“
„Haben Sie einen Wunsch, den die Götter erfüllen könnten?“ Elvert wusste, dass es derartige Wünsche gab, doch er wusste ebenso gut, dass Lukas sie ihm nicht offenbaren würde.
„Es geht nicht darum, was
ich
mir wünsche, sondern darum, was Sadako Sasaki sich gewünscht hat.“
Elvert nickte. Jetzt fiel ihm die Geschichte wieder ein, über die er irgendwann gelesen hatte: Ein Opfer des Atombombenabwurfes hatte mit dem Falten von Origami-Kranichen vergeblich gegen ihre Leukämieerkrankung angekämpft. Nun war der Kranich ein Symbol der internationalen Friedensbewegung und des Widerstandes gegen den Atomkrieg geworden. „Ihr Wunsch wurde nicht erfüllt.“
„Wer weiß.“
Elvert fixierte Lukas’ Augen, vermochte jedoch keinen Blickkontakt herzustellen. Zum wiederholten Male empfand er ein unterschwelliges Gefühl der Beunruhigung, für das es keinen konkreten Anlass zu geben schien. Es war etwas jenseits der Interaktionsebene, das er bei Lukas spürte, etwas, wofür er keinen Namen finden konnte und das er am ehesten mit
fallend
beschreiben würde. Und er hatte keine Ahnung, wie er sich dem nähern konnte, ohne sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen zu benehmen. „Was empfinden Sie, wenn Sie das sagen?“
„Erleichterung?“
Es war weder eine Frage noch eine Antwort. „Was bedeutet der Kranich für Sie persönlich?“
„Essen Sie Fleisch?“
Elvert versuchte, dem Gedankensprung zu folgen und konnte nicht verhindern, dass er sich ertappt fühlte. „Ja. Doch. Offen gestanden sogar sehr gerne.“
„Fleisch essen ist eine Form des Krieges, ist Ihnen das bewusst?“
„Gehen Sie da nicht etwas weit?“
„Der Kranich ist eine Erinnerung an die Gewalt, die wir tagtäglich ausüben.“
„Was ist mit der Gewalt gegen sich selbst?“
„Sagen Sie’s mir.“
Elvert merkte, dass er in eine Sackgasse geraten war. Er suchte nach einer eleganten Überleitung zu dem Thema, das ihn am meisten interessierte und fand keine, während Lukas weiterhin jeden Blickkontakt vermied.
Eine Pause entstand. Elvert strich sich nachdenklich über seinen Dreitagebart, wie immer, wenn er nicht weiter wusste, und entschied sich dann, direkt zu fragen.
„Wie geht es mit Ihrem Programm voran? Werden Sie es in absehbarer Zeit abschließen?“
Für einen Moment sah Lukas ihn an, und ein Schatten von Misstrauen schien sich in seinen klaren blaugrauen Augen zu spiegeln.
„Warum ist das wichtig?“
„Weil ich das Gefühl habe, dass dieses Programm durchaus auch Gewaltpotenzial besitzt.“
„Ich werde dafür sorgen, dass es nicht in die falschen Hände gerät.“
„Das habe ich nicht gemeint. Ich sprach von der Gewalt gegen Sie.“
Gedankenverloren schloss Gustav Elvert seine Gesprächsnotizen ab und fuhr den Rechner herunter. Noch immer war da dieses seltsame Gefühl in Bezug auf Lukas Stegmann, das er nicht benennen konnte. So diffus wie es war, hatte er nicht einmal die Chance, es mit seiner Supervisorin zu erörtern. Doch ihm blieb keine Zeit, dem weiter nachzuspüren, denn er wollte diesmal nicht abgehetzt und verschwitzt in der Klinik eintreffen. Er stand auf, zog den Mantel an, löschte die Lichter und schloss die Praxis ab.
Karin Kutscher empfing ihn entspannt lächelnd, wie meistens, mit ihrer schönen, klaren Ausstrahlung. Augenblicklich fühlte auch er sich besser. Er brannte darauf, über Lukas zu sprechen, stellte das Thema jedoch zurück. Er hatte noch andere Klienten!
„Ich überlege“, begann er, „ob ich eine Fallstudie ins Zentrum meines Vortrags stelle. Anschließend könnte man einige infrage kommende therapeutische Ansätze zur Diskussion stellen.“
„Du meinst beim Symposium? Eine hervorragende Idee! Das würde die erfahrungsgemäß trockene und zähe Angelegenheit mit Sicherheit auflockern. Geht es um einen aktuellen Fall?“
„Ja.“
„Der Klient, mit dem du neulich das Problem hattest?“
Karin Kutschers Berufserfahrung legte zuweilen telepathische Fähigkeiten nahe.
„Er ist seither nicht wieder aufgetaucht, hat sich nicht gemeldet und ist nicht erreichbar. Ich befürchte, dass er wieder in die Szene abgetaucht ist.“
„Heroin?“ Sie runzelte die Stirn und sah ihn eine Weile schweigend an. „Das ist nicht gut, aber im Moment gibt es nichts, was du tun kannst.“
Elvert biss sich auf die Lippe
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