Der Kranich (German Edition)
und schüttelte den Kopf. „Ich habe …“
„Ja. Du hast einen Fehler gemacht. Ich denke aber nicht, dass das die Ursache dafür ist. Wir können nur spekulieren, aber mein Gefühl sagt mir, dass er auch nicht erschienen wäre, wenn du den Termin nicht verlegt hättest. Und wenn du ehrlich bist, weißt du das selbst. Ich brauche dir keine Nachhilfestunde im Umgang mit Borderlinern zu geben. Ich kenne niemanden, der in dieser Hinsicht kompetenter ist als du. Er taucht wieder auf.“
Da es nicht Karin Kutschers Art war, halbgare Streicheleinheiten zu verteilen, wusste Elvert, dass er sich auf ihre Einschätzung verlassen konnte und fühlte sich erleichtert. Doch es gab noch genug, was auf seinen Schultern lastete.
„Ich habe eine recht überraschende Entwicklung mit dem neuen Klienten erlebt, der mir von der Bewährungshilfe überwiesen worden ist.“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Er hat einerseits etwas sehr Abgeschottetes, andererseits gab es bereits in unserer zweiten Sitzung Momente, in denen er sich in unerwarteter Weise geöffnet hat. Momente, in denen er absolut authentisch war. Es brach förmlich aus ihm heraus. Nur, dass er, glaube ich, ziemlich erschrocken darüber war.“
„Klingt, als sei der Anteil, der froh darüber ist, endlich mal mit jemandem reden zu können, sehr stark. Vielleicht ist die Zeit für ihn reif. Hast du etwas über den biografischen Hintergrund erfahren?“
„Er hat verdammt viel Autorität geschluckt und deshalb eine autoritäre Mentalität entwickelt. In seinem bisherigen Leben hat er nichts anderes erfahren, als auf seinen Gebrauchswert als ‚Ware Arbeitskraft‘ reduziert zu werden. Ich habe ihm den Schmetterlingseffekt erklärt, um ihn ein Stück aus seinem Ohnmachtsgefühl herauszuholen. Und ich glaube, ich habe ihn damit erreicht.“
Karin Kutscher nickte. „Ein scheinbar banaler Auslöser kann zu einem kraftvollen Katalysator werden, auch in der Therapie. Ich denke, du hast eine gute Basis geschaffen, auf der du aufbauen kannst, aber lass es langsam angehen. Das Vertrauensverhältnis muss sich erst entwickeln.“
„Ich hoffe nicht, dass ich zweimal hintereinander denselben Fehler mache.“
Eine Pause entstand. Elvert spürte ihren aufmerksamen Blick auf sich ruhen und überlegte, wie er das Thema, das ihm mehr als alles andere unter den Nägeln brannte, am besten anschneiden sollte, da kam sie ihm zuvor.
„Warum erzählst du mir jetzt nicht, worüber du
eigentlich
sprechen willst?“
„Ich kann es nicht rational begründen, aber ich mache mir Sorgen wegen meines Asperger-Klienten. Irgendwas entgleitet mir da.“
„Nannte er sich nicht
Luke Skywalker
? Korrigier mich bitte, wenn ich falsch liege, meine Star-Wars-Zeit ist ziemlich lange her – aber ist das nicht ein durchaus positives Rollenmodell?“
„Im Prinzip ist das eine harmlose spätpubertäre Spinnerei, sie verstärkt jedoch einen permanenten Konflikt. Seine ethischen Ansprüche sind so überhöht, dass er ihnen unmöglich gerecht werden kann. Bei seiner Persönlichkeit ist das psychischer Sprengstoff.“
„Du hältst ihn für akut gefährdet?“
Elvert schwieg und biss sich auf die Lippe.
„Das wundert mich. Für mich gibt es keinen konkreten Anhaltspunkt dafür. Steht das deiner Meinung nach im Zusammenhang mit seiner imaginären Freundin?“
„Glaube ich nicht. Er lebt bereits seit Jahren in einer stabilen Art und Weise mit dieser Phantasie, die ihn eher zu entlasten scheint. Irgendetwas sagt mir, dass die Beziehung zu seiner realen Freundin wesentlich konfliktträchtiger ist, aber er spricht nicht darüber. Im Moment ist es allerdings weniger das, was mir Sorgen macht, als vielmehr …“
„Ja?“
„Er verrennt sich da in etwas. Ich befürchte, dass er über seine Grenzen geht.“
„Wovon sprichst du?“
„Ein Programm, an dem er seit Monaten praktisch rund um die Uhr arbeitet. Er nannte es autoreferenziell. Meiner Einschätzung nach könnte es tatsächlich eine größere Sache sein, aber da ich es gerade mal so schaffe, meinen Windows-PC zu bedienen, kann ich das inhaltlich natürlich nicht beurteilen.“
„A.I.? Ist es das, was du meinst?“ Karin Kutscher runzelte die Stirn. „Das glaubst du doch nicht im Ernst?“
Elvert schwieg.
„Hör mal, Gustav“, fuhr sie nach einer kurzen Zeit des Überlegens fort, „du hast eine starke persönliche Affinität zu diesem Jungen entwickelt. Das ist menschlich und legitim. Aber du darfst nicht zulassen, dass dieses Gefühl
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