Der Kranich (German Edition)
kam nicht infrage. Normalität war eine gefährliche Illusion, und ich brauchte Gewissheit.
Ich bog ab und lief einen Schlenker durchs Industriegebiet. Auch hier waren noch Passanten auf der Straße, wenn auch deutlich weniger als vorne auf der Möhringer Landstraße. Noch immer blickte ich mich nicht um. Er war da. Ich war mir nicht ganz sicher, wie lange genau er schon hinter mir her war, doch seit dem Morgen ganz bestimmt. Er war schlau. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster spähte, machte er sich unsichtbar. In der Wohnung fühlte ich mich einigermaßen sicher, doch kaum trat ich auf die Straße hinaus,
war er da
. Es bestand keinerlei Zweifel mehr für mich, um wen es sich handelte und was er wollte, auch wenn ich ihn noch nicht deutlich gesehen hatte. Er war ein Schatten. Unwillkürlich krampfte sich meine Hand um den USB-Stick.
Wieder blieb ich kurz stehen, um zu verschnaufen. Ich war nun fast am SSB-Zentrum angelangt, das sich zwischen Vaihingen und Möhringen befindet, und plötzlich war es wie ausgestorben um mich herum. Schemenhaft nahm ich die leeren grellgelben Straßenbahnwaggons wahr, die überall auf dem Gelände herumstanden, wo sie zu Wartungsarbeiten abgestellt waren. Und nun konnte ich ihn
hören
. Seine Schritte waren dicht hinter mir und kamen näher. Ich sprang über die Gleise, rannte an den Bahnen entlang und in eine der Hallen hinein, deren verglaste Front einladend offen stand. Ich kauerte mich zwischen die Betonwand und ein Bahnabteil und versuchte unter den Rädern hindurchzuspähen, doch der Blick wurde von dicken Rohren versperrt. Trotzdem wusste ich, dass er noch immer da war. Vorsichtig schob ich die Tür der Straßenbahn auf, was mir zu meinem Erstaunen beinahe lautlos gelang, schlüpfte hinein und legte mich zwischen den Sitzen flach auf den Boden. Dort verharrte ich reglos, Minuten, die mir wie Stunden schienen. Endlich, irgendwann, beruhigte sich mein Atem.
Es war nicht so, dass ich Angst um mein Leben hätte. Schon viel zu lange und viel zu oft hatte ich dieses eher als Last denn als Geschenk empfunden. Aus einer Anzahl von Gründen, die Dr. Elvert brennend gerne mit mir erörtert hätte. Vielleicht würden wir das sogar eines Tages noch tun, doch darum ging es nicht. Der einzige Grund, warum ich versuchte, Darth Vader zu entgehen, war
NORT
. Es war
mein
Werk,
mein
Baby, und selbst wenn es sich noch nicht im letzten Stadium seiner Entwicklung befand, stand außer Frage, dass es bereits jetzt unabsehbaren Schaden anrichten konnte, wenn es in die falschen Hände geriet.
Das hatte ich zu verhindern.
Ratlos und – es ließ sich nicht leugnen – aufs Höchste besorgt blickte Gustav Elvert ein weiteres Mal zur Uhr. In der gesamten Zeit ihrer gemeinsamen Arbeit war Lukas Stegmann nie mehr als zwei, drei Minuten zu spät zu einer Sitzung erschienen, und nun war es bereits zwanzig nach vier! Schließlich hielt Elvert es nicht mehr aus, griff zum Telefonhörer und wählte seine Nummer. Als sich der Anrufbeantworter meldete, überlegte er einen Augenblick, ob er eine Nachricht hinterlassen sollte, entschied sich dann dafür. Fünf Minuten später durchsuchte er seine Unterlagen nach einer Handy-Nummer, fand eine und hinterließ auch auf der Mailbox eine Nachricht. Dann sank er auf einen seiner hellblauen Sessel und starrte aus dem Fenster. Weitere fünf Minuten später hörte er das Klappen der Eingangstür.
Elvert sprang auf.
Einen weniger erfahrenen Therapeuten hätte die professionell präsentierte, abgeklärte Gelassenheit, mit der der junge Mann seine ungewöhnliche Verspätung zu begründen wusste, vielleicht täuschen können. Nicht so Gustav Elvert. Lukas Stegmann konnte ihm nichts vormachen – nicht Luke Skywalker, den er inzwischen besser zu kennen glaubte als sich selbst!
Die physische Erschöpfung, die Atemlosigkeit und der unruhige Blick seines Klienten waren, wenn auch nicht offensichtlich, so doch deutlich spürbar. Zusammen mit den unübersehbaren Schmutzflecken auf seiner Kleidung ergab dies ein Bild, das Elvert ganz und gar nicht gefiel. Mühsam unterdrückte er den Impuls, direkt und unverzüglich nach der Ursache zu fragen – er wusste, er würde keine Antwort bekommen. Stattdessen wartete er, bis sein Gast sich gesetzt hatte und etwas zur Ruhe gekommen war und folgte seinem Blick hinüber zu dem großen, aufwändig gestalteten hölzernen Schachbrett, das auf einem Beistelltischchen neben der Couch stand. Es befanden sich keine Figuren darauf.
„Spielen wir
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