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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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eine Partie, Dr. Elvert?“
    „Warum möchten Sie spielen?“
    „Wo sind die Figuren?“
    „Sie sind … Ich bewahre sie oben in der Wohnung auf.“
    „Weil sie einen besonderen Wert für Sie darstellen?“
    „Ja. Das stimmt. Warum möchten Sie spielen?“
    „Vielleicht ist ja bereits alles gesagt.“
    „Denken Sie das?“
    „Haben Sie Angst, dass ich Sie schlagen könnte?“
    „Ganz sicher würden Sie das.“
    Nachdenklich rieb Gustav Elvert seinen Dreitagebart. Ein Gedanke schoss durch seinen Kopf, den er unter normalen Umständen augenblicklich wieder verworfen hätte. Deals, welcher Art auch immer, hatten sich in der therapeutischen Beziehung selten als hilfreich erwiesen. Erfahrungsgemäß bewirkten sie meist nur, dass authentische Kommunikation unterbunden wurde, doch dies waren keine normalen Umstände. Er musste einen Weg finden, wieder an Lukas heranzukommen, der sich ihm in beunruhigender Weise entzog. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir werden in einer der nächsten Stunden – ich sage nicht, in der nächsten, aber in einer der nächsten – eine Partie spielen, wenn Sie bereit sind, mir auf eine einfache Frage eine ehrliche Antwort zu geben.“
    „Einverstanden.“
    „Was war der Grund für Ihre heutige Verspätung?“ Dies war einer der seltenen Momente, in denen Elvert unmittelbaren, direkten Blickkontakt herstellen konnte. Lukas’ Gesichtsausdruck war ernst, ohne eine Spur von Ironie, seine klaren blaugrauen Augen waren völlig offen. Er versuchte nicht auszuweichen, und seine Antwort kam ohne Zögern.
    „Ich musste erst noch einen Verfolger abschütteln.“
    Elvert wurde kurz heiß, fast bereute er, gefragt zu haben, doch er blieb äußerlich völlig ruhig. „Wer verfolgt Sie?“
    „Das war schon die zweite Frage.“
    „Bekomme ich trotzdem eine Antwort?“
    „Darth Vader.“
    „Und warum glauben Sie, dass er Sie verfolgt?“ Elvert war sich seines sprachlichen Patzers durchaus bewusst, doch er war momentan emotional viel zu involviert, um auf technische Feinheiten zu achten – ein fataler Fehler natürlich!
    „Hören Sie, ich glaube nicht, dass ich dieses Thema jetzt vertiefen möchte. Ich werde schon damit fertig.“ Lukas’ Blick war wieder auf das Schachbrett gerichtet.
    Gustav Elvert folgte seiner Intuition und entschied, die Geschichte fürs Erste auf sich beruhen zu lassen. „In Ordnung. Es gibt noch eine andere Sache, die mich seit einem unserer letzten Gespräche beschäftigt. Sie sagten, dass Sie der Meinung sind, dass sich die Kognitionswissenschaft in einem ganz bestimmten Punkt irrt – im Zusammenhang mit der Diskussion über künstliche Intelligenz natürlich.“
    „Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet, es ist nur meine persönliche Meinung …“
    „Darf ich sie trotzdem hören?“
    „Es hat mit der Interpretation des subjektiven Identitätsgefühls zu tun. Ich denke, es wird überbewertet, das ist alles.“ Er lachte, doch es war kein entspanntes Lachen. „Nichts Geheimnisvolles.“
    „Das bedeutet …?“
    „Das bedeutet, dass ich der Meinung bin, dass Intelligenz nicht zwangsläufig an das gebunden sein muss, was wir im aktuellen Sprachgebrauch unter dem Kognitionsbegriff verstehen. Ich glaube, wir werden uns früher oder später an eine wesentlich weiter gefasste Bedeutung von Intelligenz gewöhnen müssen – eine abstraktere.“
    „Eine mathematisch erfassbare?“
    „Eine nicht deterministische.“
    Die durch Lukas’ Verspätung verkürzte Sitzung verging zu schnell, und es fiel Gustav Elvert schwer, nicht zu überziehen. Genauso schwer fiel es ihm, die ungewohnt starken Gefühle, die ihn beim Abschied überschwemmten, beiseitezuschieben und sich auf den nächsten Klienten zu konzentrieren. Es blieb keine Zeit für eine Pause, und sei sie auch noch so kurz – Thomas Lamprecht saß bereits im Wartezimmer.
    Zwei Menschen, wie sie verschiedener nicht sein könnten, ging es Elvert durch den Kopf, während er versuchte, den abrupten Szenenwechsel zu verarbeiten und sich eine sinnvolle Strategie für die vor ihm liegenden fünfzig Minuten zurechtzulegen. Er war nicht vorbereitet. Zwei völlig verschiedene Menschen mit völlig verschiedenen Biografien und völlig unterschiedlichen Problemen – und doch gab es Berührungspunkte. Einer dieser Punkte war zweifellos die mangelnde Nahbarkeit, die seinerseits höchstes Fingerspitzengefühl erforderte. Ein Umstand, dem er nicht immer in vollem Umfang gerecht werden konnte, doch er war fest entschlossen,

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