Der Kranich (German Edition)
Glatteisgefahr bestand zurzeit nicht, und sie hatte keinerlei düstere Vorahnungen. Kurz nach vier bog sie in die Rosenbergstraße ein, und zehn Minuten später klingelte sie an Lukes Tür.
Es dauerte eine Weile, bis er öffnete, er war überrascht, schien sich jedoch zu freuen. Er war nicht in Plauderstimmung. Wortlos klappte er den Computer zu und begann sie auszuziehen. Eva ließ es geschehen. Sie hatte längst aufgehört, sich Gedanken über seine zuweilen abrupt wechselnden Gefühlslagen zu machen. Sie genoss die Nähe zu ihm, die sie an diesem Tag vielleicht mehr spürte als jemals zuvor. Er war präsenter als sonst, und fast hatte sie das Gefühl, ein Stück der Mauer, die ihn gewöhnlich zu umgeben schien, sei eingestürzt. Eine kurze, allzu vergängliche Stunde lang befand sie sich am Ziel ihrer Sehnsüchte.
Später, als sie atemlos nebeneinander lagen, dachte sie zum ersten Mal in ihrem Leben an ein Kind.
„Alles in Ordnung, Luke?“, flüsterte sie. „Geht’s dir gut?“
„Du bist wunderbar, Evita, weißt du das? Du bist so, wie ich mir die Mutter meines Kindes vorstelle.“
„Ich könnte die Mutter deines Kindes sein.“
„Ich wünschte, du könntest es. In meinen Träumen … wirst du es sein.“
Eva richtete sich auf und versuchte, den Sinn seiner Worte zu erfassen. Er sah sie auf eine seltsame Art an, direkt und gleichzeitig doch wie aus einer anderen Welt. Traurigkeit schien sich in seinen Augen zu spiegeln, die die Farbe der See an einem stürmischen Tag hatten. Und ganz plötzlich, ganz ohne Vorwarnung konnte sie den Sturm spüren, der sich unabwendbar auf sie zubewegte, auf sie beide. Es war ein Hurrikan, nichts würde mehr so sein wie es war. Sie formulierte Fragen, die nie gestellt werden würden, und gab Antworten, die es nicht gab. Der Raum war voller Worte, die nichts ausdrücken konnten. Und plötzlich war
er
da. Mikael Andersson, genannt Kalle. Verirrter Asphaltcowboy mit guten Beziehungen und schlechten Manieren. Lange schon hatte er sich nicht mehr zwischen sie gedrängt, und fast hatte sie geglaubt, ihn besiegt zu haben – eine Illusion, wie sich nun herausstellte.
„Nicht
er
drängt sich zwischen uns, Evita, sondern ich habe mich zwischen euch gestellt. Ein Fehler, den ich zu oft bereut habe, glaub mir.“
„Bist du … dir sicher, dass du das tun willst?“, brachte Eva mühsam hervor.
„Er liebt dich.“
„Und du?“
„Das ist nicht von Bedeutung.“
Allmählich verschluckte die hereinbrechende Dämmerung die letzten Lichtpunkte. Er konnte ihre Tränen nicht sehen, und sie war dankbar dafür. Es war alles gesagt. Was hätte es noch für einen Unterschied gemacht, wenn sie ihm entgegen geschrien hätte, dass er sie wie eine Hure behandelte, schlimmer als Kalle, der sie drei Jahre lang geschlagen hatte – nicht so hart, dass es jeder sofort gesehen hätte, aber hart genug, dass es wehgetan hatte. Sie wusste, Luke hätte ihr nicht geglaubt. Er hatte seine Realität, und in dieser war Kalle ein Freund. Es war zu einfach, die Dinge nur schwarz oder weiß zu sehen.
Lautlos glitt sie vom Bett, sammelte ihre Kleidung ein und tauchte in die Nacht.
Ein kleiner weißer Origami-Kranich blieb auf dem Fußboden zurück.
Martin Beier nahm in seiner Einzimmerwohnung in Bad Cannstatt den Teller vom Tisch, ging in die Küche, stellte ihn in der Spüle ab, kehrte ins Zimmer zurück und schaltete den Fernseher ein. „Stirb langsam“ in der fünfzigsten Wiederholung. Er zappte weg. Im Ersten eine stinklangweilige Tiersendung und im Zweiten eine alberne Rosamunde-Pilcher-Verfilmung. Von Programm zu Programm wurde es schlimmer. Seufzend zappte er wieder auf Bruce Willis und legte die Fernbedienung neben sich. Teilnahmslos beobachtete er die Ballerei auf dem Bildschirm und konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken abschweiften. Wie gewöhnlich landete er nach kurzer Zeit bei dem Fall, den er gerade bearbeitete, genauer gesagt, bei einem seiner Fälle. Aber dies war ein ganz besonders widerwärtiger. Er hasste es, wenn Kinder in Mordfälle verstrickt waren, und es spielte dabei keine Rolle, ob auf der Täter- oder der Opferseite. Wenn auf beiden Seiten Kinder beteiligt waren, wurde es unerträglich, und genauso einen Fall hatte er auf seinem Schreibtisch liegen. Wahrscheinlich lag er dort, weil sich in der gesamten Dienststelle außer ihm wieder einmal niemand gefunden hatte, der bereit gewesen wäre, knietief in den Morast zu steigen …
Ein stechender Schmerz in der
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