Der Kranich (German Edition)
David Reich hatte sich angesichts seiner Aktivitäten in vollem Umfang zufrieden gezeigt und machte keine Anstalten, ihn, abgesehen von der erfolgreichen Teilnahme an der „Rückfallpräventionsmaßnahme“, weiter zu schikanieren. Unwillkürlich musste Lamprecht grinsen. Lächerlich war die Sache ja schon. Er erzählte den Leuten, was sie hören wollten, sie glaubten es, und abgesehen davon machte er, was er wollte. Die Menschen können schon naiv sein! Es kann eben keiner in den Kopf eines anderen hineinsehen. In seinem Fall war das kein Problem, er schadete schließlich niemandem – doch wie das bei den sogenannten „resozialisierten“ Sexualstraftätern aussah, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Wie dem auch sei, er hatte auch gar keine Zeit dazu. Es war ein Uhr mittags, um fünf musste er bei dem Psycho sein, und bis dahin wollte er diese lästige Internetgeschichte hinter sich gebracht haben. Er konnte sich keinen weiteren Zeitverlust leisten.
Zügig durchquerte Thomas Lamprecht die Unterführung am Charlottenplatz und ging über die Planie zur Königstraße hinüber. Den Abstecher in die Toiletten am Schlossplatz verschob er auf den Abend – er brauchte jetzt seine fünf Sinne beieinander. Zielstrebig, wenn auch mit heftig pochendem Herzen, machte er sich an die Durchführung des Planes, den er sich in der Nacht zurechtgelegt hatte. Seine erste Station war ein Handyladen. Kein unpersönliches Kaufhaus, sondern einer, wo der Verkäufer sich etwas Zeit nehmen konnte, um einem technisch unversierten Kunden behilflich zu sein. Den hatte er auch schnell gefunden. Der Verkäufer war stark übergewichtig, hatte ein freundliches Mondgesicht und absolut nichts zu tun. Eine halbe Stunde später befand Lamprecht sich im Besitz eines billigen Prepaid-Handys mit eingelegter SIM-Karte und aufgeladenem Guthaben, und er wusste sogar, wie es zu bedienen war. Kein schlechter Anfang, doch der nächste Schritt würde sicher schwieriger werden.
Es dauerte dann auch fast eine Stunde, bis er in der Innenstadt ein halbwegs gepflegt aussehendes Internetcafé gefunden hatte und eine weitere halbe Stunde, bis er sich überwinden konnte hineinzugehen. Verunsichert blickte er sich um. Nur vier der etwa fünfzehn Computer, die durch hölzerne Sichtschutzwände voneinander abgetrennt waren, waren besetzt. Vom Inhaber des Ladens, oder von wem auch immer, der an der Kasse neben der Eingangstür hätte sein sollen, fehlte zunächst jede Spur. Nachdem Lamprecht ein oder zwei Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, gewartet hatte und fast schon die Flucht antreten wollte, bequemte sich schließlich ein junger Kerl mit schwarzer Lockenmähne, die Kopfhörer abzunehmen und von einem der Computerplätze zu ihm herüberzukommen.
„Bitte schön?“
„Also, ich wollte …“, begann Lamprecht und spürte, wie sein Mund trocken wurde. Hilflos sah er zu den Computern hinüber.
„Halbe Stunde – ein Euro“, war die unbeeindruckte Antwort. „Nehmen Sie die fünf.“
Unentschlossen blieb Lamprecht stehen. „Also wissen Sie, ich habe noch nie …“
„Verstehe.“
Der Lockenkopf blickte zwar nicht übermäßig begeistert drein, war aber auch nicht unfreundlich. Lamprecht atmete durch. Mehr konnte man unter diesen Umständen wahrscheinlich nicht erwarten.
„Was wollen Sie denn tun?“, fragte der Jungunternehmer, nachdem sie Platz genommen und er den Browser gestartet hatte.
Irritiert starrte Lamprecht auf all die seltsamen bunten Symbole auf dem Monitor.
„Tja, also eine Freundin erzählte mir von Twitter …“. Der Rest seiner mühsam zusammengezimmerten Legende, die zweite Hälfte der schlaflosen Nacht, erwies sich als überflüssig.
„Haben Sie schon einen Account?“
Eine himmelblaue Grafik mit einem lustigen, kleinen Vögelchen oben in der Mitte erschien auf dem Bildschirm. „Wie bitte?“
„Okay. Bevor Sie loszwitschern können, müssen Sie sich anmelden. Sie brauchen einen Account.“
Fieberhaft überlegte Lamprecht, ob die Angaben, die er zu seiner Person machen sollte, wohl auf irgendeinem Weg auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden würden, und er spürte, wie seine Stirn feucht wurde. Unwahrscheinlich, sagte er sich, bei einem derartig anonymen Massenmedium. Und wenn schon – er hatte sowieso keine Wahl. Er nannte den erstbesten Namen, der ihm einfiel, eine Adresse wurde glücklicherweise nicht verlangt. Schwieriger wurde es schon bei der E-Mail-Adresse, doch der Lockenkopf schien seinen
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