Der Kranich (German Edition)
sein Möglichstes zu tun.
Freundlich lächelte er den hageren Mann an, der sich ihm gegenüber gesetzt hatte und das schüttere Haar zurückstrich. Sein neuester Klient befand sich sicher bereits in den Vierzigern, obwohl sein Alter außerordentlich schwer zu schätzen war. Wahrscheinlich wirkte er älter, als er tatsächlich war. Es gehörte zu Elverts Grundsätzen, persönliche Details wie das Lebensalter oder den Familienstand seiner Klienten nicht den Akten zu entnehmen. Er gab seinem Gegenüber die Gelegenheit, die Sitzung zu eröffnen, als jedoch nichts kam, entschloss er sich, einen Versuchsballon zu starten.
„Herr Lamprecht, bevor wir im Detail in Ihre Biografie einsteigen, würde ich Ihnen heute gerne in groben Zügen eine äußerst effektive Behandlungsmethode vorstellen, aus der Sie meiner Meinung nach großen Nutzen ziehen könnten. Ich werde Ihnen die Grundzüge der Methode erklären und bitte Sie, diese zunächst einfach auf sich wirken zu lassen. Ein derartiges Verfahren würde Ihren ausdrücklichen Wunsch und anschließend Ihre aktive Mitarbeit erfordern. Sie brauchen keine schnelle Entscheidung zu treffen – was wir hier tun und wann wir es tun, liegt ausschließlich bei Ihnen. Der große Vorteil von
emdr – eye movement desensitization and reprocessing
– besteht darin, dass sich der Behandlungserfolg im Vergleich zu anderen Therapieformen äußerst schnell einstellt. Es sind nicht einmal die Hälfte der sonst üblichen Therapiestunden erforderlich.“
Erwartungsgemäß spiegelte sich Interesse in Thomas Lamprechts Augen.
„Das wäre sicherlich in Ihrem Sinne, der Hintergrund meiner Überlegung ist jedoch ein anderer. Ich bin der Überzeugung, dass die Hafterfahrung ein überaus traumatisches Erlebnis für Sie war. Und ich sage Ihnen auch ganz offen, dass Sie meiner Einschätzung nach aufgrund Ihrer Kindheitserlebnisse – von denen ich erst andeutungsweise etwas weiß – überhaupt nicht in Haft hätten genommen werden dürfen. Jedenfalls nicht unter diesen Umständen.“
Das war die volle Wahrheit, und Elvert hoffte, dass sie auch ankam. Den größten Teil der Stunde verbrachte er nun damit, Thomas Lamprecht das emdr-Verfahren vorzustellen, das er seit zwei Jahren mit Erfolgen praktizierte, die ihn selbst immer wieder in Erstaunen versetzten. Parallel dazu versuchte er zu analysieren, ob sich das offensichtliche Interesse seines Klienten nur auf die Aussicht bezog, möglichst schnell aus der ungeliebten Situation herauszukommen, oder ob vielleicht wenigstens eine minimale Chance bestand, dass er sich
wirklich
darauf einlassen würde. Elvert hätte alle Wetten des psychologischen Stammtisches gehalten, dass dies zu einer qualitativen Veränderung in Lamprechts Leben führen würde. Und sein Bauch sagte ihm, dass er es tun würde.
Nachdem sein letzter Klient für diesen Tag gegangen war, saß der Therapeut noch lange vor seinem Computer und starrte auf den schwarzen Bildschirm. Er fühlte eine Erschöpfung, wie er sie selten empfunden hatte. Es war nicht die Erschöpfung eines Arbeitstages, vielmehr fühlte es sich an wie die Erschöpfung eines ganzen Arbeitslebens. Lukas’ seltsamer Anfall von Verfolgungswahn schien sich nicht in das Gesamtbild seiner Symptomatik einzufügen und beunruhigte ihn deshalb umso mehr. Doch selbst der Gedanke, das Problem mit Karin Kutscher zu erörtern, brachte keine Erleichterung, sondern hatte einen schalen Geschmack. Vielleicht sollte er einmal an Urlaub denken. Ein Thema, das er in den vergangenen Jahren vernachlässigt hatte. Doch wozu in Urlaub fahren, wenn keiner da war, der mitfuhr? Gustav Elvert erhob sich mühsam, schloss die Praxis ab und ging nach oben. Vielleicht war ja auch einfach das Mittagessen schuld.
Er nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr auf sein mittägliches Steak zu verzichten – Krieg hin oder her – und schlug eine Handvoll Eier in die Pfanne.
10
Da die Völkerrechtsvorlesung wegen Krankheit des Dozenten ausfiel, war Eva an diesem sonnigen Dienstagnachmittag schon früh in Tübingen fertig. Nach dem üblichen Milchkaffee mit Anke in der Mensa entschloss sie sich daher zu einem spontanen Besuch bei ihrem Freund. Sie hatten sich eindeutig zu wenig gesehen in der letzten Zeit, sie brauchte dringend eine Pause vom Prüfungsstress, und ihm konnte es auch ganz sicher nicht schaden, wenn ihn jemand für ein paar Stunden von seinem Notebook weglotste! Bestens gelaunt und entspannt fuhr sie die B27 entlang. Es war wärmer geworden,
Weitere Kostenlose Bücher