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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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Freitagabend stattgefunden hatte. Gerade als er von seinem Termin mit Karin Kutscher zurückgekommen war und sich ein heißes Bad eingelassen hatte, hatte das Telefon geläutet. Eine strikte Trennung zwischen Privat- und Berufsleben hatte noch nie seinem Stil entsprochen, und so benutzte er auch nur eine einzige Telefonnummer. Entsprechend war es nicht ungewöhnlich, dass einer seiner Klienten am Abend anrief, um einen Termin zu verschieben oder manchmal auch aufgrund einer akuten Krisensituation. Elvert handhabte diese Dinge recht zwanglos, was Karin kritisch sah, doch er hatte noch nie die Erfahrung gemacht, dass ihn einer seiner Klienten in unangemessener Weise bedrängt hätte, und so sah er auch keine Veranlassung dazu, sich übertrieben restriktiv abzugrenzen. Natürlich war ihm bewusst, dass Grenzziehungen dieser Art ein waches Auge erforderten. Jedenfalls erstaunte ihn der Anruf an sich nicht – unter den speziellen Bedingungen allerdings umso mehr. Er hätte nicht gedacht, dass seine Supervisorin so schnell recht behalten würde. Jürgen Roth hatte nicht viel gesagt, sondern nur um einen neuen Termin gebeten, und Elvert hatte diesem Wunsch umgehend entsprochen.
    Er blickte zur Uhr hinüber, die bereits halb zehn zeigte, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Jürgen Roth war nicht das einzige Thema, das ihn das Wochenende über beschäftigt hatte. Auch das Gespräch mit Karin über Lukas wollte ihn nicht loslassen. Stimmte ihre Vermutung? War er tatsächlich im Begriff, aufgrund eines Affektes seine Objektivität zu verlieren? Falls es so war, wäre es das zweite Mal in seiner beruflichen Laufbahn, dass er in eine derartige Situation geriet. Das erste Mal war das vor fast zehn Jahren geschehen, der betreffende Klient war eine junge Frau gewesen, und er hatte die emotionale Verstrickung gelöst, indem er sie zu einem Kollegen überwiesen hatte. Und zwar in einem frühen Stadium. Trotzdem hatte die Sache in einer Katastrophe geendet, in einem Suizidversuch seiner Klientin nämlich, den diese nur knapp überlebt hatte. Noch immer bekam Elvert Schweißausbrüche, wenn er sich daran erinnerte, und manchmal träumte er davon. Karin Kutscher wusste nichts von der Sache, es war lange vor ihrer Zeit gewesen, und das war gut so.
    Lukas Stegmann war natürlich ein völlig anderer Fall. In keiner Weise mit jenem vergleichbar, doch eines wusste Elvert mit absoluter Bestimmtheit: Egal wie hart er sich mit seiner Gegenübertragung auch würde auseinandersetzen müssen – er würde Lukas’ Vertrauen nicht dadurch enttäuschen, dass er ihn verließ!
    Wieder blickte Elvert zur Uhr hinüber und registrierte, dass sich der kleine Zeiger unaufhaltsam der Zehn näherte. Nicht dass ein Klient, wie heftig er auch ausagieren mochte, in der Lage gewesen wäre, ihm Angst zu machen – doch eine gewisse innere Unruhe empfand er schon. Resigniert schloss er die Symposiumsdatei und wandte sich der Akte Jürgen Roth zu.
    Als er zwei Stunden später den umgekehrten Arbeitsschritt vollzog, fühlte er sich bedeutend besser. Der verhasste Montagmorgen neigte sich dem Ende zu, er hatte eine erfolgreiche Therapiestunde hinter sich und zu allem Überfluss auch noch die förmliche Einwilligung seines Klienten, seinen Fall beim Symposium vorzustellen. Jürgen Roth hatte sich zwar nicht direkt für seinen Auftritt entschuldigt, sich jedoch friedlich und einer Fortführung der Behandlung gegenüber offen gezeigt. Darauf konnte man aufbauen. Und, wer weiß, vielleicht bot das Diskussionsforum in der Klinik ja sogar brauchbare neue Ansätze. Euphorisch hackte Elvert in die Tastatur, die Seiten füllten sich, und erst gegen halb zwei meldete sein Magen, dass es Zeit wurde, ans Mittagessen zu denken. Er fuhr den Computer herunter, schloss die Praxis ab und wollte sich schon auf seinen üblichen Weg zum Wallgraben machen, da hielt er plötzlich inne und schlug eine andere Richtung ein.
    Gustav Elvert ließ den Gedanken nicht zu, dass es etwas mit der Tatsache zu tun haben könnte, dass Lukas Stegmann auf dem Sechzehn-Uhr-Termin eingetragen war. Nein, sagte er sich, es ist einfach gut, ab und zu die ausgetretenen Trampelpfade zu verlassen und etwas anderes auszuprobieren. Eine Viertelstunde später befand er sich in einem vegetarischen Restaurant am Schillerplatz und bestellte einen Soja-Dinkel-Burger mit Gartengemüse und grünem Tee.
    Thomas Lamprecht atmete auf, als er am Mittag das Gebäude der Bewährungshilfe in der Uhlandstraße verließ.

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