Der Kranich (German Edition)
abstrahieren? Irgendwann, als es draußen bereits zu dämmern begann, hatte er es satt, sich wie ein Student kurz vor dem Verriss seiner Doktorarbeit zu fühlen, und klappte die Bücher zu.
Eigentlich hatte er vorgehabt, noch ein oder zwei Stunden zu schlafen, doch plötzlich ertappte er sich dabei, wie er im Internet eine Abhandlung über die verdeckte Suizidalität beim Asperger-Syndrom studierte.
Nachdenklich strich er über seinen Dreitagebart. Vor seinem Auftritt am Nachmittag würde er sich dringend noch rasieren müssen.
„Gehen wir wieder in den Zoo, Thomas?“
Hoffnungsvoll waren die großen Kinderaugen auf ihn gerichtet. Fahrig schenkte Thomas Lamprecht Kaffee ein – Kakao für die Kleine – und suchte verzweifelt nach einer passenden Ausrede. Wie kann man einem Kind plausibel machen, dass man nicht in den Zoo gehen kann, weil man einen Wohnungseinbruch plant, um etwas zu stehlen, von dem man nicht einmal genau weiß, was es eigentlich ist? Indem man sagt, dass man es für sie tut? Für sie und ihre Mutter, um sie zu beschützen und für eine sorglose gemeinsame Zukunft mit mehr Zoo besuchen? Sicher nicht. Er konnte all dies weder dem Kind noch der Mutter erklären und, wenn er ehrlich war, noch nicht einmal sich selbst. Doch dies spielte nun keine Rolle mehr. Er hatte A gesagt, nun musste er auch B sagen. Sonst würde die Sache in einer Katastrophe enden.
Er lächelte gezwungen und bestrich Ninas Brot mit Honig. „Vielleicht nächstes Wochenende, Schatz. Heute muss ich arbeiten.“
Nina zog einen Schmollmund. „Immer musst du arbeiten.“
„Vielleicht geht die Mama ja mit dir.“
„Wo geht die Mama hin?“ Judith kam mit drei weich gekochten Eiern aus der Küche und setzte sich ebenfalls an den Tisch.
„In den Zoo. Die Giraffen anschauen.“ Giraffen waren neuerdings Ninas Lieblingstiere.
„Nein, heute nicht. Wir müssen in die Stadt, nach Schuhen für dich schauen. Aus den alten bist du schon wieder rausgewachsen.“ Sorgenfalten zeigten sich auf Judiths Stirn.
„Brauchst du Geld?“
Sie zögerte. „Etwas Geld wäre nicht schlecht.“
Lamprecht reichte ihr ein paar Scheine und war erleichtert, dass sie nicht fragte, woher es kam. Als es einen Augenblick später an der Tür klingelte, zuckte er zusammen und hatte sofort ein schlechtes Gefühl. „Erwartest du jemanden?“
Judith schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Wohnungstür. Er wollte noch sagen: „Mach nicht auf“, doch da war es schon zu spät.
Mr. Yes und Mr. No standen bereits vor dem Frühstückstisch.
Kreidebleich kam Judith ihnen aus dem Flur hinterhergeeilt und stellte sich schützend vor ihr Kind. Nina beobachtete die Szene mit wachen, neugierigen Augen ohne jedes Zeichen von Angst.
Noch bevor Lamprecht Zeit hatte zu reagieren, machte einer der beiden – welcher es war, spielte genau genommen keine Rolle – eine ungeduldige Kopfbewegung in seine Richtung. „Keine Panik, Lady, wir wollen nur den da! Was ist – kommst du freiwillig mit, oder müssen wir dich erst k.o. schlagen? Der Boss will dich sehen.“
Schicksalsergeben stand Lamprecht auf, nahm seinen Mantel vom Haken und folgte den beiden die Treppe hinunter.
Die Fahrt verlief schweigend, doch Thomas Lamprecht kochte vor Wut. Was um alles in der Welt bildete Barranquilla sich ein, ihm schon wieder seine Gorillas auf den Hals zu hetzen? Noch dazu vor Judith und dem Kind! Es wurde verdammt Zeit, dass er die Dinge dort oben am Killesberg ein für alle Mal klarstellte!
Als sie angekommen waren, war von seinem Heldenmut jedoch nicht mehr allzu viel übrig. Vielleicht war er auch nur realistisch. Allein und unbewaffnet – was hätte er schon ausrichten können? Barranquilla amüsierte sich köstlich, plauderte entspannt über seinen derzeit besten Kunden in der Rosenbergstraße und dass der ganz hingerissen von seinem neuen Kontaktmann sei. Er habe seine Bestellungen verdoppelt, unter der Bedingung, dass künftig ausschließlich Lamprecht ihn beliefere. Da könne man nun mal nichts machen – aber das würde ihm, Lamprecht, alles auf seine Schuld angerechnet. Eigentlich könne er sich doch freuen! Dass man das Kind erschreckt habe, sei bedauerlich, doch wenn er sich kooperativ zeige, werde es auch nicht wieder vorkommen.
Ehe er es sich versah, befand Lamprecht sich mit einem Pfund Koks in der Tasche wieder auf der Straße.
In diesem Moment hasste er sich.
„Warum hast du die Stunde mit deinem Shrink gestern abgesagt?“ Maya saß wie üblich im
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