Der Kranich (German Edition)
Außerdem konnte ich ja nicht ahnen, dass die Tweets verschwinden würden. Der Administrator muss sie gelöscht haben. Ist ziemlich ungewöhnlich!“
Lukas ging hinaus und kam Minuten später mit einem Verbandspäckchen zurück. „Oder sie wurden extern gelöscht. Kannst du mir das herumwickeln?“
Ralf versuchte sein Möglichstes, einen halbwegs stabilen Verband anzulegen, ohne seinen Freund, der vor Schmerzen aufstöhnte, dabei umzubringen. Ihm irgendetwas ausreden zu wollen, war ohnehin sinnlos. „Wer sollte so etwas tun?“
„Denk doch mal nach.“
„Das glaubst du doch nicht im Ernst? Ich meine, das Ganze war doch nur ein Scherz!“
„Das ist kein Scherz, Ralf. Was ich auf die Serviette geschrieben habe, ist … Verdammt, wie konnte ich nur so unvorsichtig sein!“
„Hör auf, Luke. Das konnte niemand ahnen.“
„Den Gegner zu unterschätzen, ist der größte Fehler, den man machen kann … Danke. Immerhin ist es nur die rechte.“
Als Lukas’ Hand notdürftig verpackt war, verlor Ralf die Geduld und schleuderte das Leukoplastband in die Ecke. „Was verschweigst du mir, Luke? Wer, verdammt, ist
Darth Vader?“
Entschlossen klappte Lukas das Notebook zu und trennte alle Kabelverbindungen. „Du musst mir einen Gefallen tun. Hier ist es nicht mehr sicher genug.“
„Ist das dein Ernst? Du ohne deinen Computer?“
„Das ist das kleinste Problem. Ich besorg mir was anderes. Du solltest jetzt gehen.“
Unentschlossen blieb Ralf sitzen. „Bist du sicher, dass ich dich allein lassen kann? Und Eva, was ist mit …“
Lukas schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Bring
NORT
von hier weg, bevor es zu spät ist. Bitte.“
Ein unscheinbar aussehender azurblauer USB-Stick, achtlos hingeworfen wie der kleine Kranich, blieb zurück, als Ralf die Wohnung verließ.
12
Ein weiteres Mal in seinem Leben ließ Thomas Lamprecht den Blick über die kalten, weißen Wände einer Zelle wandern, in die er eingesperrt war. Der einzige Unterschied bestand darin, von welcher Seite aus die Tür zugesperrt war. In diesem Fall ließ sie sich von innen öffnen. Er saß wieder einmal auf einem stinkenden Toilettendeckel und beobachtete den kristallfarbenen Rauch, wie er sich langsam, gleichsam in Zeitlupe, nach oben ausbreitete, wobei skurrile Bilder und Muster entstanden. Immer öfter war er gezwungen, diese unkomfortable Zuflucht zu wählen, auf der Flucht vor bohrenden Blicken und quälenden Fragen, auf der Flucht vor Judith und Nina, vor David Reich und Gustav Elvert, vor Barranquilla und seinen Sheriffs, vor der ganzen verdammten Gesellschaft. Und vielleicht vor sich selbst.
Die Flashs waren hart und kurz, und er war sich darüber im Klaren, dass sein Konsum sich erneut in einen kritischen Bereich gesteigert hatte. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken und legte einen neuen Stein ins Glas.
Er versuchte auch, nicht über die Worte von Gustav Elvert nachzudenken. Nicht über das, was er gesagt hatte, und vor allem nicht darüber,
wie
er es gesagt hatte. Er war, verdammt noch mal, nur ein fucking Psycho, vor dem man sich teuflisch in Acht nehmen musste! Doch so sehr Lamprecht sich auch dagegen wehrte – in den kurzen, klaren Phasen zwischen den Flashs, in diesen gefährlichen Phasen, in denen er Gefühle hatte, die ihn angreifbar machten, tropfte unaufhaltsam etwas in sein Bewusstsein. Schleichendes Gift. Eine Droge, weit zerstörerischer als die Substanz, die er zwischen den Fingern hielt. Der Psycho versuchte, sie ihm zu verabreichen. Er wollte ihn süchtig machen, ohne dass er sich dagegen wehren konnte, vielleicht ohne dass er es überhaupt merkte. Thomas Lamprecht versuchte nicht, die Substanz zu benennen, und das war auch nicht nötig. Etwas in ihm, das sehr tief verborgen war, ein schlafender Kern, der sich fortwährendem Schmerz bereits in präverbaler Phase entzogen hatte, wusste sehr wohl, um was es sich handelte: aufrichtige Empathie.
Irgendwann, nachdem er es fast geschafft hatte, jeden Funken Lebendigkeit zu betäuben, als sein Herz an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit raste und ein hoher Summton in seinen Ohren zu klingen begann, klingelte das Handy in seiner Tasche. Im ersten Augenblick vermochter er die beiden Klangsignale nicht zu trennen, konnte den neu hinzugekommenen Ton nicht einordnen, endlich gelang es ihm, in die Tasche zu greifen, und er starrte das vibrierende Gerät an wie einen Geist. Geisterhaft war auch die Stimme, die an sein Ohr drang, und er musste seine gesamte
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