Der Kranich (German Edition)
Hemd allemal überlegen. Und er würde ihn ja nicht gleich umbringen.
Weiter kam er mit seinen Überlegungen erst einmal nicht, denn die Tür vor ihm öffnete sich, und der Yuppie mit der unechten Rolex stand grinsend vor ihm.
„Kommen Sie rein, oder wollen Sie das Geschäft im Treppenhaus abwickeln?“
Lamprecht hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. Was bildete der sich ein? Er hatte ihn ein einziges Mal gesehen, und nun behandelte er ihn schon mit dieser herablassenden Verbindlichkeit – wie einen Hotelpagen. Es fehlte noch, dass er ihm einen Euro Trinkgeld in die Hand drückte!
Der Euro blieb aus, und sowieso hatte Lamprecht andere Sorgen. Nachdem der Yuppie mit seligem Gesichtsausdruck seine Probelinie gezogen und ihm ein Päckchen Scheine übergeben hatte, schloss sich die Tür der Maisonettewohnung wieder, und Thomas Lamprecht stand erneut mit klopfendem Herzen im Treppenhaus. Er drückte nicht auf den Lichtschalter, sondern schlich im Halbdunkel die Stufen zum fünften Stock hinunter.
Behutsam legte er sein Ohr an die Tür. Kein Laut war zu hören. Auch sonst war es für einen frühen Samstagnachmittag ungewöhnlich still im Haus. Doch das konnte ihm nur recht sein.
Lukas Stegmann
stand auf einem Schild neben der Tür. Den Namen kannte er inzwischen schon. Er klingelte. Nichts rührte sich. Wenn niemand zu Hause war – umso besser! Da er bis auf ein Taschenmesser kein Werkzeug bei sich hatte, war er erneut gezwungen zu improvisieren. Er nahm noch eine alte Kreditkarte zu Hilfe, die der Geldautomat längst nicht mehr annahm und hatte zu seinem großen Erstaunen bereits nach wenigen Minuten Erfolg. Das Schloss leistete erheblich weniger Widerstand, als er befürchtet hatte, und die Wohnungstür sprang auf. Lamprecht blickte in einen kleinen Flur, von dem rechts die Küche abging. Niemand war zu sehen oder zu hören. Während er vorsichtig die Tür zum Zimmer aufschob, überlegte er, was er eigentlich genau suchte. Einen Datenträger, soviel stand fest. Was konnte das sein? Am ehesten ein Computer. Was sonst noch? Eine externe Festplatte? Eine CD? Er würde einfach alles mitnehmen, was er fand. Die Organisation würde sich dann schon heraussuchen, was sie brauchte.
Noch bevor er irgendetwas anderes wahrnahm, fiel sein Blick auf einen auffällig azurblauen USB-Stick, der auf einem Sessel lag. Ohne darüber nachzudenken, ließ er ihn in die Hosentasche gleiten. Dann wandte er sich dem kleinen Netbook zu, das mitten im Raum auf dem Boden stand, aufgeklappt, so, als sei es kurz zuvor benutzt worden. Lamprecht war gerade dabei, sich über das achtlos hingeworfene Verpackungsmaterial und die Kaufquittung zu wundern, als er plötzlich erstarrte. Ganz hinten im Zimmer, unter dem halb geöffneten Fenster, fast verdeckt von ein paar Kissen, auf denen Kleider lagen, lag noch etwas anderes. Ein zusammengekrümmtes Bündel. Bei genauerem Hinsehen bestand kein Zweifel daran, dass es ein Mensch war.
Thomas Lamprechts erster Impuls war, auf dem Absatz kehrtzumachen und schleunigst zu verschwinden, doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Vorsichtig näherte er sich der reglosen Gestalt, streckte die Hand aus und berührte Lukas’ Stirn. Als keinerlei Reaktion erfolgte, drehte er ihn etwas, sodass er sein Gesicht sehen konnte, und fand seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Lippen waren bläulich verfärbt.
Lamprecht hatte genug Szenen dieser Art erlebt, in Stammheim und auch anderswo, um zu wissen, was das bedeutete. Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, riss er das Handy aus der Manteltasche, wählte die 112 und gab mit wenigen, präzisen Sätzen die Situation durch.
Dann begann er, Luft in Lukas’ Lungen zu blasen.
Der Parkplatz vor der Waldeck-Klinik war voll besetzt. Elvert wendete und wollte bereits die Christian-Belser-Straße zurückfahren, da überlegte er es sich anders. Er wendete abermals und fuhr in Richtung Sonnenberg weiter. Irgendwo dort oben im Wohngebiet würde er eher einen Parkplatz finden. Er hatte es nicht eilig. Es war noch früh am Nachmittag, das Wetter war gut, und er war einer der letzten auf der Rednerliste. Viel früher wollte er auch nicht dort sein, denn würde er den Vorträgen der anderen zuhören, wäre er nicht mehr in der Lage, seinen eigenen zu halten! Ein Stündchen an der frischen Luft war da sicher die weit bessere Alternative. Abgesehen davon war er sowieso kein allzu großer Fan von Symposien. Normalerweise hätte er höflich dankend
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