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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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selbst ebenfalls dort war und fand keine Antwort darauf.
    „Du hast gesagt, er hat den Termin heute Nachmittag abgesagt. Ist das schon öfter passiert?“
    Er versuchte zu antworten und zu seiner Überraschung gelang ihm das sogar. „Nein. Das ist noch nie passiert.“
    „Was genau hat er gesagt?“
    Verzweifelt versuchte er sich an Lukas’ Worte zu erinnern, doch aus einem seltsamen Grund entglitten sie ihm. Nur ein unbestimmtes Gefühl drohender Gefahr blieb zurück.
    Wieder erklang Karin Kutschers Stimme. „Du hast von einer Episode von Verfolgungswahn erzählt. Es muss ein Ereignis gegeben haben, das ihn aus der Bahn geworfen hat. Anders ist das für mich nicht zu erklären. Hast du eine Idee, was das gewesen sein könnte?“
    Elvert schüttelte den Kopf. „Er wollte unbedingt Schach spielen.“
    „Er wollte Schach spielen?“
    „Ein Schachspiel kann das Schicksal besiegeln. Hast du das gewusst?“
    Plötzlich befand er sich nicht mehr ihr gegenüber, sondern saß neben ihr auf einem Sofa. Als er genauer hinsah, stellte er fest, dass es sein Sofa war. Das Sofa in seinem Praxisraum. Das Schachbrett stand daneben, und die großen, wertvollen Figuren aus Elfenbein befanden sich darauf. „Spielen wir eine Partie, Karin?“
    Er spürte ihr Haar auf seiner Haut und roch ihr Parfum. Ein Blumenduft.
    „Erzähl mir, warum er dir so viel bedeutet.“
    Die Umgebung seiner Praxis verblasste, und ein tiefer, unergründlicher See tat sich vor ihm auf. Es war kalt, und er fröstelte. Schneidender Wind ließ hohe Wellen entstehen, auf deren Kämmen schäumende Gischt sprudelte.
    „Weil er stirbt.“
    Mit einem Aufschrei fuhr Gustav Elvert hoch. Sein Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt, seine Decke lag am Boden. Er knipste die Nachttischlampe an und sah auf den Wecker. Vier Uhr früh!
    Erschaudernd erinnerte er sich an Fragmente seines Traumes. Er stand auf, ging ins Bad und hielt das Gesicht unter lauwarmes Wasser, dann weiter in die Küche, wo er sich ein Glas Milch eingoss. Seufzend setzte er sich an den Küchentisch. Offensichtlich war er ernsthafter überarbeitet, als er geglaubt hatte.
    Um in die Realität zurückzufinden, rekonstruierte er den vergangenen Tag. Es stimmte, Lukas Stegmann hatte tatsächlich seinen Termin abgesagt. Er sei erkältet. Nichts Gravierendes, doch er wolle sicherheitshalber ein paar Tage zu Hause bleiben. Er hatte zwar nicht erkältet geklungen, dafür aber gelassen und absolut realitätsbezogen. Kein Grund zur Beunruhigung! Nachdem Lukas versprochen hatte, am Montagvormittag zu erscheinen, hatte Elvert das Telefonat beendet und war zu seiner Supervisionsstunde gefahren.
    Mit Karin Kutscher hatte er nicht einmal darüber gesprochen. Es gab andere Themen. Thomas Lamprechts anstehende emdr-Therapie. Das Symposium am nächsten Tag … Das Symposium! Erneut geriet Elvert ins Schwitzen. Oder war es das, was ihn aus der Fassung brachte? Lächerlich! Natürlich hatte er es noch nie genossen, vor einem Publikum zu stehen, doch es war auch keineswegs das erste Mal. Und er war hervorragend vorbereitet. Jede freie Minute hatte er in den vergangenen Tagen mit der Fallstudie Jürgen Roth verbracht, und er war der festen Überzeugung, dass sein Vortrag sich sehen lassen konnte. Also kein Grund zu übertriebener Nervosität!
    Elvert stand auf und ging zurück ins Bett. Das Beste, was er jetzt tun konnte, war zu schlafen, um am nächsten Tag ausgeruht zu sein. Schlaf wollte sich jedoch nicht einstellen. Erneut wanderten seine Gedanken zu Lukas. „Erzähl mir, warum er dir soviel bedeutet“, hatte Karin in seinem Traum gesagt. Er fand beim besten Willen keine Antwort darauf und schluckte ein Baldrian. Meistens half das. Nicht so in dieser Nacht.
    Als der Wecker neben dem Bett fünf Uhr dreißig zeigte, stand er auf, zog einen Morgenmantel über, ging in die Praxis hinunter und fuhr den Computer hoch. Zum x-ten Mal ging er seine Aufzeichnungen durch und durchstöberte seine Literatur nach Aspekten des Borderline-Syndroms, die ihm möglicherweise entgangen waren. Eine Zwischenfrage, auf die er nicht vorbereitet war, konnte zu einer peinlichen Situation führen. Er las über die Spaltung, die Deck-Abwehr, die Externalisierung. Studierte erneut die Pathologie der Selbst- und Objektrepräsentanzen, trianguläre Strukturen, eingefrorene Introjekte und Depressionsabwehr. Themen, die er aus der Praxis mehr als gut genug kannte, doch wie verhielt es sich mit seiner Fähigkeit, in einer Stresssituation zu

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