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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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abgelehnt, doch unter diesen Umständen war das natürlich etwas anderes. Karin Kutschers Einladung war eine Ehre!
    Seufzend stellte er den Wagen irgendwo an der Straße ab, überlegte kurz und ging dann entschlossen durch den Bruderrain zum nahen Waldfriedhof hinüber. Friedhöfe hatten schon immer eine beruhigende Wirkung auf ihn ausgeübt. Vielleicht würde ihm das helfen, sein quälendes Lampenfieber in Schach zu halten. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr und entschied dann, dass er sich eine Stunde ohne Weiteres leisten konnte.
    Gemächlich schlenderte er zwischen den Gräbern hindurch, die Sonne schien, es war kalt, aber nicht unangenehm, und er ließ seine Gedanken schweifen. An seinen Vortrag versuchte er nun bewusst nicht mehr zu denken, stattdessen las er die Namen auf den Grabsteinen, rechnete die Lebenszeit der Verstorbenen aus und phantasierte darüber, was sie in ihrem Leben wohl alles erlebt haben mochten. So viele Leben! So viel Vergänglichkeit. Gedanken an Lukas tauchten auf, doch er schob sie beiseite. Dieses Thema würde ihn zu sehr ablenken, und er war fest entschlossen, sich vor seiner Supervisorin keine Blöße zu geben.
    Die Stunde der Stille verging zu schnell, und schweren Herzens nahm Gustav Elvert zur Kenntnis, dass es Zeit wurde, sich auf der Veranstaltung sehen zu lassen.
    Als er vor dem größten Raum im Gebäude eintraf, der sich im Untergeschoss befand und als Aula diente, war gerade Pause. Unzählige zerknittert aussehende Männer in teuren grauen Anzügen standen diskutierend in Grüppchen herum, schlurften Kaffee aus Pappbechern und fühlten sich offensichtlich enorm wichtig. Frauen waren wenige darunter, und nach kurzer Zeit hatte er Karin erspäht. Sie sah ihn auch, löste sich von ihrem Gesprächspartner und kam zu ihm herüber.
    „Schön, dass du da bist, Gustav. Wir liegen ganz gut in unserem Zeitplan. Wenn du möchtest, bist du der übernächste Redner.“
    Elvert nickte und setzte zu einer Unterhaltung an, doch ein anderer war schneller, drängte sich zwischen sie und verstrickte Karin Kutscher in eine Fachsimpelei über die historische Relevanz Otto Kernbergs im Lichte neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Resigniert wandte Elvert sich ab. Da er niemanden sonst kannte und ihn der Diskurs auch nur mäßig interessierte, nutzte er den Rest der Pause, um sich mit den räumlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Wenig später ertönte dann auch schon ein Gong, und die Teilnehmer strömten in den Saal zurück.
    Nachdem alle sich gesetzt hatten und Ruhe eingekehrt war, erklomm ein kleiner, drahtiger Mann deutlich fortgeschrittenen Alters die Bühne. Von seinem Platz in der dritten Reihe aus, den Karin ihm reserviert hatte, verfolgte Elvert mit zunehmendem Interesse den Beitrag des Referenten, der ihn unwillkürlich an Ronald Laing denken ließ. Er kannte den Mann mit dem sympathischen Schweizer Akzent nicht, doch bereits nach wenigen Sätzen war klar, dass es sich um einen erfahrenen Praktiker mit nicht weniger revolutionären Denkansätzen handelte, als sie der schottische Pionier der Antipsychiatrie einst vertreten hatte. Dazu um einen außergewöhnlich scharfsinnigen Interpreten der theoretischen Schlussfolgerungen von Harold Searles. Nach einer Viertelstunde revidierte Elvert seine Haltung, dem Nachmittag nichts Bereicherndes abgewinnen zu können, grundlegend, und er begann der Gelegenheit entgegenzufiebern, diesen bemerkenswerten Analytiker persönlich kennenzulernen. Doch zuvor hatte er seinen eigenen Beitrag abzuliefern, und diese Aufgabe wurde nach einem solchen Vorredner nicht eben leichter!
    Der Beifall für den Vortrag war dann auch entsprechend. Nach einer kurzen Fragerunde verließ der Professor, dessen Name, wie Elvert zwischenzeitlich erfahren hatte, Raymond Bonnatti war, das Podium und überließ ihm das Feld. Er erhob sich mit klopfendem Herzen und hatte, während er die paar Stufen zum Rednerpult emporstieg, die kurze Schreckensvision zu stolpern, der Länge nach hinzufallen und für den Rest seines Lebens zum Gespött der Fachwelt in ganz Europa zu werden. Nun – wenn das sein Schicksal sein sollte, dann sei es eben so!
    Nachdem er das Pult ohne Zwischenfälle erreicht hatte, atmete Gustav Elvert tief durch, legte seine Notizen vor sich hin und blickte über das Publikum. Gespannte Stille hatte sich im Raum ausgebreitet.
    „Zuerst einmal möchte ich sagen“, begann er und wunderte sich fast darüber, dass seine Stimme ruhig und fest klang, „dass

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