Der Kranich (German Edition)
Außerdem musste ich zuvor einen anderen Punkt klären, der mir wichtig schien. „Sie haben von einem Retter gesprochen …“
Der Arzt runzelte die Stirn. „Ja. Seltsame Geschichte. Sie hatten einen Atemstillstand. Jemand hat von Ihrer Wohnung aus einen Notruf gesendet und Sie ziemlich fachmännisch beatmet, bis die Sanis eintrafen. Doch dann ist er ohne ein weiteres Wort verschwunden. War jemand bei Ihnen, als es passiert ist?“
Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte, um weitere Nachforschungen möglichst im Keim zu ersticken. „Das war wohl … mein Onkel. Er hat einen Schlüssel.“ Ich wusste selbst, dass die Erklärung nicht allzu überzeugend war, aber in diesem Moment fiel mir beim besten Willen nichts Besseres ein. Entsprechend skeptisch fiel dann auch die Reaktion aus.
„Ihr Onkel, hm? Na ja. Sie sollten sich jedenfalls bei ihm bedanken. Ohne ihn wären Sie jetzt tot oder hätten zumindest einen irreparablen Hirnschaden.“
Es brannte mir unter den Nägeln zu fragen, von welchem Telefon aus der Notruf eingegangen war, doch das war natürlich sinnlos, denn es hätte nur unnötiges Misstrauen erregt, und der Arzt hätte es sicher nicht gewusst. Außerdem hatte er weit Wichtigeres zu tun und ließ mich fürs Erste mit meinen Gedanken allein.
Ich versuchte aufzustehen, kam jedoch nicht allzu weit. Bunte Lichtpunkte flimmerten vor meinen Augen, und mir wurde übel. Trotzdem begab ich mich tastend auf die Suche nach meinen Kleidern.
Ich wusste, es gab eine winzige Chance. Und die bestand darin, dass
Darth Vader
ein Handy benutzt hatte. Ein Handy, das sich womöglich noch immer in seinem Besitz befand.
14
Es war einer jener zeitlosen Momente. Momente, von denen es in einem Menschenleben nur sehr wenige gibt. Thomas Lamprecht hielt den Atem an. Judiths Körper unter ihm fühlte sich an wie warmes Wachs, zerfloss, verschmolz mit ihm. Sie bewegten sich nicht mehr, warteten ab, eine ganze Zeit lang, dann wurde sein Atem schnell, er spürte, wie er die Kontrolle verlor, ließ es geschehen, nahm wahr, wie das mühsam aufrechterhaltene Gedankengebäude in Bruchteilen von Sekunden zusammenstürzte und nichts blieb, als der reine, auf seine existenzielle Essenz komprimierte Augenblick.
Judith stöhnte auf, der Boden brach unter ihm weg, Tränenbäche stürzten aus seinen Augen. Es war, als sei die Anspannung eines ganzen Lebens aus seinem Körper gewichen, er war ein Kind, kaum älter als drei Jahre, suchte die schützende Nähe der Mutter, die es nicht gab. Unbestimmte Zeit lag er schluchzend neben ihr, sah sich selbst, den Körper des sterbenden Jungen in den Armen, verzweifelt bemüht, das Schicksal herumzureißen, das sich ihm ein weiteres Mal in unverständlicher, zynischer Art und Weise entgegengestellt hatte. Lukas hatte so hilflos, so unschuldig ausgesehen, wie er vor ihm lag, selbst noch fast ein Kind, er hätte sein Sohn sein können! Lamprecht hatte nicht lange genug bleiben können, um zu erfahren, ob er überlebt hatte. Die Bilder des vergangenen Tages verfolgten ihn, ließen ihn nicht los.
Seine eigenen Probleme blieben bestehen, hatten sich genau genommen noch vergrößert, doch schienen sie nicht mehr bedeutend genug, um andere mitzureißen. Plötzlich erschien alles in einem anderen Licht.
„Was ist los, Thomas? Sprich doch mit mir!“
Ihre Stimme klang leise und mitfühlend, doch ihre Frage war nicht zu beantworten.
Stunden später, als der Sonntag begonnen hatte, und Judith längst mit Nina draußen war, saß er allein auf dem Sofa und starrte aus dem Fenster. Dann wandte er den Blick dem kleinen Speicherstick zu, der in seiner Hand lag, zweifelhafte Ausbeute einer verzweifelten Tat mit unvorhergesehenem Ausgang. Fast wünschte er, er hätte ihn ebenso zurückgelassen wie alles andere, seine Träume eingeschlossen. Doch er war da. Judith war da, das Kind war da. Und die winzige Chance, dass der Stick etwas enthielt, wofür andere bereit waren, viel Geld zu bezahlen. Wenn Lukas tot war, würde er ihm nicht mehr damit schaden, und wenn nicht … Früher oder später würde er es erfahren, doch bis dahin war er gezwungen, eine Entscheidung zu treffen.
Die Übergabe fand noch am selben Abend statt. Man traf sich im Rosensteinpark nahe dem Naturkundemuseum. Es war schon dunkel, die Sonntagsspaziergänger waren längst nach Hause zurückgekehrt, und die langen Schatten der Bäume wurden zu bedrohlichen Zeugen der Aktivitäten, die nun hier stattfanden. Geld, Ware, Dienstleistungen
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