Der Kranich (German Edition)
ich es als große Ehre empfinde, heute hier sprechen zu dürfen. Noch dazu nach einem Beitrag, der keinerlei Fragen offen zu lassen scheint. Mein Vorredner hat bereits in beeindruckender Art und Weise herausgestellt, dass das Borderline-Syndrom keine nosologische Residualkategorie ist und spezielle Abwandlungen des klassischen Settings erfordert. Lassen Sie mich nun versuchen, einzelfallspezifisch auf einige Besonderheiten in der therapeutischen Interaktion einzugehen.“
Der Saal verschwamm vor seinen Augen, das Publikum verschwand und Jürgen Roths Gesicht tauchte auf. Ohne dass es eine bewusste Entscheidung gewesen wäre, löste Elvert sich von seinem theoretischen Konzept und begann frei zu sprechen. Als er geendet hatte, waren fast eineinhalb Stunden vergangen, und er wurde mit begeistertem Applaus belohnt. Ein hitziger Disput schloss sich an, an dem sich zu seiner Freude vor allem Professor Bonnatti intensiv beteiligte.
Nach Abschluss des offiziellen Programms diskutierten sie in kleinem Kreis noch eine ganze Zeit lang weiter, und der Tag endete feucht-fröhlich in einer Weinstube in Sonnenberg. Karin Kutscher sparte nicht mit Anerkennung, und erst spät am Abend fuhr Gustav Elvert erleichtert und euphorisiert die kurze Strecke nach Vaihingen zurück.
Völlig erschöpft und mit einem Gefühl, das man fast als Glück bezeichnen konnte, fiel er ins Bett. Sein letzter Gedanke, bevor er in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank, galt Lukas.
Als ich die Augen öffnete, glaubte ich zunächst zu träumen. Verschwommen nahm ich eine fremde weiße Welt wahr. Weiße Wände, weißes Licht, eine weiße Bettdecke, die schwer auf mir lag, weiße Gestalten um mich herum. Während das Bild nach und nach klarer wurde, überlegte ich verzweifelt, was mit mir geschehen war. Eine Nadel steckte schmerzhaft in meinem Arm, und mein Mund fühlte sich trocken an. Ich versuchte den Kopf zu drehen, da löste sich eine Gestalt aus dem Weiß, näherte sich und berührte meine Stirn mit einer angenehm kühlen Hand. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geschworen, es sei Mayas Hand.
„Dr. Bürkle, ich glaube, er ist jetzt wach.“
Augenblicklich näherte sich eine andere Gestalt und sympathische braune Augen musterten mich aufmerksam.
„Wie fühlen Sie sich?“
Der Wirrwarr in meinem Kopf ließ noch keine sinnvolle Antwort auf diese Frage zu, andere Fragen schienen mir außerdem weit drängender! Wo war ich überhaupt? Was war passiert? Wie kam ich hierher? Und was um alles in der Welt war mit mir los? Seltsamerweise fiel mir plötzlich Dr. Elvert ein, und in einem Anflug von Panik sagte ich: „Was für ein Tag ist heute? Ich habe einen Termin, den darf ich auf keinen Fall …“ Ich richtete mich auf, was mir zu meiner Überraschung problemlos gelang, doch die Nadel in meinem Arm bohrte sich erneut schmerzhaft in mein Fleisch. Meine rechte Hand war frisch verbunden.
„Sachte, sachte, junger Mann, sonst tun Sie sich noch weh.“
Zu meiner großen Erleichterung wurde die Nadel entfernt, und in meinem Kopf begannen die Gedanken etwas klarer zu werden. Kurz darauf wurden auch die meisten meiner Fragen beantwortet.
„Keine Sorge. Wir haben noch immer Samstag. Sie waren nur etwa zwei Stunden bewusstlos. Sie hatten aber einen guten Schutzengel. Das hätte leicht schief gehen können.“
„Danke.“
„Danken Sie nicht mir, sondern Ihrem Retter. Allem Anschein nach hatten Sie einen Kreislaufzusammenbruch – die Ursache dafür versuchen wir noch herauszufinden. In Ihrem Alter ist das ziemlich ungewöhnlich. Umso mehr, als wir keinerlei Drogen oder andere Substanzen in Ihrem Blut gefunden haben. Hatten Sie so etwas schon einmal?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Herz-Kreislauferkrankungen in der Familie?“
Ich schüttelte abermals den Kopf. Der Arzt deutete auf den Verband.
„Üble Verbrennung, die Sie sich da zugezogen haben. Das kann eine Rolle gespielt haben, reicht mir als Erklärung aber nicht aus. Wie ist das passiert?“
„Ich habe wohl versucht, Kaffee zu kochen“, scherzte ich, und ein breites Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht meines Gegenübers.
„Ich sehe, es geht Ihnen schon wieder ganz gut. Ihre Werte sind auch stabil. Nach den Untersuchungen zu urteilen, sind Sie kerngesund. Trotzdem würde ich Sie gerne ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten.“
Das kam natürlich auf keinen Fall infrage, doch ich wollte nicht unhöflich sein, daher stellte ich meine Flucht noch einen Moment zurück.
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