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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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Wie auch immer – mein Gefühl sagte mir, dass er das Handy noch bei sich hatte. Es sagte mir aber auch, dass es besser war, bis zum nächsten Vormittag zu warten. Ich hoffte, ihn dann zu Hause zu erwischen und möglichst allein, abgesehen davon, dass meine Kräfte für diesen Abend erschöpft waren. Auf einen weiteren unfreiwilligen Krankenhausaufenthalt wollte ich es nicht ankommen lassen.
    Gegen meine Gewohnheit ging ich früh zu Bett, konnte jedoch trotz – oder vielleicht auch wegen – meiner Erschöpfung nicht einschlafen. Nachdem ich mich lange genug von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, kletterte ich die Leiter wieder hinunter. Ich widerstand der Versuchung, den Computer einzuschalten, und stellte mich im Dunkeln, von der Gardine verborgen, ans Fenster. Lange Zeit ließ ich meinen Blick die Straße auf und ab wandern, spähte in Häuserecken und versuchte einen Schatten auszumachen, aber nichts dergleichen war zu erkennen. Schließlich klappte ich das Netbook doch auf und führte eine weitere Ortung durch. Das Handy befand sich jetzt im Osten, und es veränderte die Position nicht. Es handelte sich um eine Adresse in der Cannstatter Straße.
    „Gratuliere. Jetzt hast du ihn ja gefunden.“
    Ich antwortete nicht. Ich war nicht sicher, ob ich mit ihr sprechen wollte.
    „Ich bin froh, dass du … wieder da bist.“
    Es schien sich nichts verändert zu haben, doch ich wusste, dass das nicht stimmte. „Tatsächlich?“
    „Ich kann dir Dinge sagen, Luke Skywalker, nicht aber ihren Ablauf beeinflussen. So sehr ich es mir auch wünsche.“
    Wer bist du?
    „Nur du allein kannst diese Frage beantworten. Eines Tages wirst du es tun, doch dies ist nicht der Zeitpunkt dafür.“
    „Ich weiß. Es ist alles meine Schuld. Ich hätte den Stick nicht behalten dürfen.“
    „Mach dir keine Vorwürfe. Die Fragmente, die sich darauf befinden, können keinen Schaden anrichten.“
    „Das kommt darauf an, wer ihn in die Hand bekommt. Die Struktur des Programms ist erkennbar. Jemand könnte es weiterentwickeln …“
    „Nicht die Atombombe ist das Problem, sondern das Herz des Menschen. Irgendwann wird dein Ansatz sowieso gefunden werden.“
    „Vielleicht kann ich es noch stoppen.“ In Gedanken spielte ich mit den Optionen für den nächsten Tag. Die Priorität des Termins mit Dr. Elvert rückte auf die hinteren Plätze.
    „Das solltest du dir überlegen.“
    Ich sah sie an. Dies war einer der seltenen Momente, in denen ich ihren Blick direkt auffangen konnte. „Was?“
    „Du solltest deinem Shrink nicht ein zweites Mal absagen.“
    „Warum nicht?“
    „Weil du ihm sehr viel bedeutest und er sich große Sorgen deinetwegen macht. Rede mit ihm!“
    Das rote Backsteingebäude hob sich gespenstisch vom Nachthimmel ab. Fröstelnd stand Karl-Heinz Emmerich vor dem Seiteneingang und hielt den USB-Stick umkrampft. Seine Armbanduhr zeigte dreiundzwanzig Uhr dreißig. Mehrmals fuhr er herum, als er ein Rascheln hinter sich hörte, es war jedoch weit und breit niemand zu sehen. Das kleine Fleckchen am Neckar, zwischen Bahngleisen und B10, schien sonntagnachts der verlassenste und unheimlichste Ort in ganz Stuttgart zu sein. Dabei spielte es keine große Rolle, ob man sich innerhalb oder außerhalb des Gebäudes befand. Emmerich verfluchte die Situation, in die er geraten war, er verfluchte seine Krankheit, und er verfluchte seinen Job. Er wusste, wenn er gesund gewesen wäre, hätte er eine internationale Karriere vor sich gehabt, und er hätte sich nicht mit einem wie Pross einlassen müssen. Die Türen von Apple, Microsoft, Google hätten ihm offengestanden. So bestanden seine Reisen im Wesentlichen darin, einmal im Jahr seine Mutter in Nürnberg zu besuchen. Und selbst das strengte ihn in zunehmendem Maße an. Er wusste, dass er nicht einmal den Job bei Avaleet noch lange durchhalten würde – ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Vorstand dabei war, den Karren gegen die Wand zu fahren. Die Mutter würde in absehbarer Zeit zum Pflegefall werden, und er selbst – das stand in den Sternen. Das war der Grund, warum er Mario Pross nicht gleich beim ersten Gespräch zum Teufel geschickt hatte. Wegen der lächerlichen Veruntreuung, die er noch dazu längst wieder beglichen hatte, aufzufliegen, machte ihm keine Angst – aber er konnte es sich einfach nicht leisten.
    Emmerich nahm sein Spray aus der Tasche und inhalierte prophylaktisch, denn er wusste, dass seine angegriffenen Bronchien dem Stress nicht mehr lange

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