Der Kranich (German Edition)
auf, warfen ihn zu Boden, legten ihm Handschellen an und schleiften ihn zu einem Streifenwagen, um ihn unwiederbringlich in Stammheim verschwinden zu lassen. Mr. Yes und Mr. No schlugen mit Knüppeln auf ihn ein, die Fahrt fand diesmal im Kofferraum statt, und Endstation war ein tiefes Loch irgendwo im Kräherwald …
Mühsam beherrschte er sich. Für beides gab es keinerlei Anlass! Wahrscheinlich war es nur der Stromablesedienst oder die Nachbarin, um sich ein Pfund Zucker zu borgen. Vorsichtig näherte er sich dem Spion in der Wohnungstür und spähte nach draußen. Niemand war zu sehen. Während er noch überlegte, was zu tun war, klingelte es ein zweites Mal. Lamprecht atmete tief durch. Okay. Wer es auch sei, er würde sich nicht vor ihm verstecken. Mit dem Mut der Verzweiflung griff er zur Klinke, riss die Tür auf und erstarrte wie vom Donner gerührt. Vor ihm schien nichts weniger als ein vom Tode Auferstandener zu stehen, und dieser starrte ihn gleichermaßen fassungslos an.
Lukas hatte sich als Erster wieder gefasst. „Ich glaube, wir kennen uns. Ich bin …“
„Ich weiß, wer Sie sind“, brachte Lamprecht mühsam hervor und versuchte, zwischen der Erleichterung, die er darüber empfand, den Jungen lebend und bei bester Gesundheit wiederzusehen, und dem Impuls, ihn augenblicklich k.o. zu schlagen, irgendeine Art von innerem Gleichgewicht wiederherzustellen. Es gelang ihm nicht. Dies war der Moment, in dem alles in sich zusammenstürzte.
„Bei Dr. Elvert, oder? Dort habe ich Sie gesehen. Darf ich reinkommen?“
Benommen gab Thomas Lamprecht die Tür frei und folgte Lukas ins Wohnzimmer. „Wie haben Sie mich gefunden?“
„Sie haben mir das Leben gerettet. Ich denke, ich sollte mich bei Ihnen bedanken.“
Die Absurdität der Situation war komplett. Unfähig zu einer Reaktion sank Lamprecht aufs Sofa.
„Warum sind Sie mir gefolgt?“
Stumm beobachtete er, wie der Junge sich umsah.
„Sie sind
Darth Vader
.“
„Darth Vader existiert nicht. Er ist nur eine Filmfigur.“
„Ich denke, Sie werden für das, was sie tun, Ihre Gründe haben, und ehrlich gesagt interessiert es mich nicht. Ich möchte nur zurückhaben, was mir gehört.“
Lamprecht schüttelte resigniert den Kopf. „Ich habe den Stick nicht mehr.“
„Und wo ist er?“
„Ich weiß es nicht.“
„Hören Sie, ich glaube nicht, dass Ihnen klar ist, worauf Sie sich da eingelassen haben. Sie müssen mir sagen, wer ihn hat.“
„Selbst wenn ich wollte, ich kann es nicht. Es gab einen Anruf. Sie nennen sich ‚Die Organisation‘.“
Eine längere Stille folgte. Die Spannung im Raum war mit Händen zu greifen. Lukas stand am Fenster, Lamprecht saß zusammengesunken auf dem Sofa. Keiner von beiden rührte sich, dennoch schienen sie sich zu umkreisen wie zwei Boxer im Ring. Noch war unklar, wer k.o. gehen würde.
Endlich nahm Thomas Lamprecht einen Anlauf. „Vielleicht können wir uns ja einigen. Sie wollten das Ding – was immer es ist – doch sowieso verkaufen. Wenn die andere Seite bezahlt, wird genug für uns alle dabei rausspringen.“
Lukas schüttelte den Kopf. „Sie haben da leider etwas sehr gründlich missverstanden. Kann ich mal Ihr Handy sehen?“
Lamprecht begann sich wie ein ferngesteuerter Roboter zu fühlen. Nahezu willenlos tat er, was der andere von ihm verlangte. Die Ereignisse verkomplizierten sich vor seinen Augen in einer Art und Weise, der er nichts mehr entgegenzusetzen vermochte. Vielleicht war er einfach zu erschöpft, um zu reagieren.
„Hätte ich mir denken können – die Nummernerkennung ist unterdrückt. Haben Sie einen Computer hier?“
Er schüttelte den Kopf.
„Macht nichts. Es wäre wahrscheinlich sowieso sinnlos.“ Lukas dachte einen Moment lang nach. „So wie es aussieht, schulde ich Ihnen etwas, deshalb vergesse ich die Geschichte. Ich kann Ihnen nur noch das sagen: Wer auch immer der Interessent ist – er wird auf dem USB-Stick nicht finden, was er haben will, und ich kann es auch nicht beschaffen. Bis auf die paar Dateien habe ich alles vernichtet. Es ist also sinnlos, wenn Sie bei mir weiter danach suchen. Ich denke aber, dass die nicht ungefährlich sind, deshalb sollten Sie sich gut überlegen, was Sie als Nächstes tun.“
Die Euphorie des Samstagabends hatte Gustav Elvert den ganzen Sonntag über nicht verlassen, und sie machte sogar den Montagmorgen erträglich. Nicht einmal die schweren schwarzen Wolken vor den Fenstern vermochten ihn zu beeindrucken. Zwei mehr oder
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