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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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weniger erfolgreiche Sitzungen lagen bereits hinter ihm – unspektakulär, eher stabilisierend als aufdeckend, nicht die Art von Begegnung, die ihn elektrisierte und für seinen Beruf brennen ließ. Doch es war okay. Nicht jede Stunde konnte ein Highlight sein! Er dachte an Professor Bonnatti, mit dem er verabredet hatte, in engem Kontakt zu bleiben. Endlich hatte er in der größtenteils engstirnigen und konservativen europäischen Therapieszene jemanden gefunden, der auf seiner Wellenlänge lag – abgesehen von Karin natürlich, aber Karin war eine Frau, das war nicht genau dasselbe.
    Gut gelaunt gab er seinen Kakteen etwas Wasser und wartete auf den letzten Klienten des Vormittags, auf Lukas. Fast schien es, als hätten die Ereignisse des Wochenendes seine übersteigerte Unruhe in Bezug auf ihn zum Abklingen gebracht oder zumindest überdeckt.
    Ein Anflug davon flackerte allerdings wieder auf, als Lukas sich erneut verspätete. Es handelte sich diesmal aber nur um wenige Minuten. Wesentlich deutlicheres Unwohlsein stellte sich beim Therapeuten angesichts von Lukas’ bis zum Unterarm verbundener Hand ein, und er klopfte rasch die psychologischen Implikationen einer derartigen Verletzung ab. Diesmal schaffte er es nicht, sich in Geduld zu fassen.
    „Haben Sie sich verletzt?“
    „Nichts von Bedeutung.“
    Eine Pause entstand, in der Elvert versuchte, sich auf sein Gegenüber einzuschwingen. Er spürte Lukas’ Unkonzentriertheit, die ungewöhnlich war. Eine Sache schien seine gesamte Aufmerksamkeit zu absorbieren, eine Sache, über die er jedoch offensichtlich nicht sprechen wollte oder konnte. Ein guter Therapeut wäre in der Lage, einen derartigen Widerstand aufzulösen und nutzbar zu machen. Elvert musste sich zuammenreißen, um nicht in Selbstzweifel abzuschweifen.
    „Was bedeutet es für Sie, verletzt zu werden?“
    „Es ist eine Notwendigkeit. Wie der Tod.“
    Unmerklich zuckte Elvert zusammen und konnte nicht verhindern, dass Bilder aus seinem Traum vor ihm lebendig wurden. Rasch schob er sie beiseite. Das gehörte nicht hierher.
    „Haben Sie sich schon einmal die Chance gegeben, die Menschen auch anders zu erleben?“
    „Sie schulden mir ein Schachspiel, Dr. Elvert.“
    Die Tatsache, dass er, vielleicht zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Arbeit, auf jeden Fall aber, soweit er sich erinnern konnte, von den blaugrauen Augen in einer unausweichlichen, zwingenden Art fixiert wurde, verunsicherte ihn, und einen Moment lang zweifelte er daran, noch Herr der Situation zu sein. Zum wiederholten Male verhielt sich Lukas in einer derartig Asperger-untypischen Weise, dass er seine Diagnose erneut infrage stellte. Dieser junge Mensch schien sich tatsächlich allen Kategorien zu entziehen, doch das Problem lag auf der Seite der Kategorien. Er brannte darauf, diesen Punkt mit Professor Bonnatti zu erörtern, doch der Augenblick erforderte es, Position zu beziehen.
    Dann tat Gustav Elvert etwas, was er lange nicht getan hatte und für sehr lange Zeit nicht mehr tun würde. Er stand wortlos auf, verließ die Praxis, stieg die Treppe hinauf und nahm das Kästchen mit den kostbaren Figuren aus der Nachttischschublade. Als er wenige Minuten später ins Zimmer zurückkehrte, hatte Lukas sich nicht gerührt. Elvert stellte das Schachbrett zwischen sie und platzierte die Figuren darauf – weiß auf Lukas’ Seite. Doch dieser drehte das Brett.
    „Ich finde, weiß passt besser zu Ihnen.“
    Elvert nickte und spielte die Sokolski-Eröffnung, die Lukas jedoch sofort wirksam parierte.
    Es entwickelte sich eine ungewöhnliche, geschlossene Partie, in deren Verlauf Elvert zunächst zu einer englischen Symmetrievariante wechselte und schließlich die Grünfeld-Verteidigung versuchte, doch er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Offensichtlich ganz im Gegensatz zu Lukas, der zunehmend ruhiger wurde und für einen Anfänger bemerkenswert vorausschauend spielte. Bald befanden sich deutlich mehr schwarze als weiße Figuren auf dem Feld.
    „Sie lassen mich doch nicht etwa gewinnen, oder?“
    „Bei meiner Ehre! Bin wohl etwas aus der Übung, es ist eine ganze Weile her …“, Elvert erinnerte sich an sein letztes Spiel und vergaß zu ziehen.
    „Sie sind dran. Haben Sie das schon einmal getan?“
    „Was?“
    „Mit einem Klienten gespielt.“
    „Ich spiele niemals mit Menschen, mit Klienten schon gar nicht.“
    Lukas grinste. „Schach.“
    Eilig brachte Elvert seinen König mit einer Rochade in Sicherheit.
    „Ich

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