Der Kranich (German Edition)
Ereignisse hatten eine Eigendynamik entwickelt, die ich seit geraumer Zeit vorausgesehen hatte, jedoch nicht beeinflussen konnte. Ich konnte es nicht, Maya konnte es nicht, niemand konnte es.
Dr. Elvert schüttelte mir beim Abschied die Hand. Nicht die rechte natürlich, doch das spielte keine Rolle. Sein Händedruck war fest, seine Augen waren warm und sein Lächeln ehrlich. Er sagte, wir sähen uns dann in der nächsten Woche, und ich solle auf mich aufpassen. Ich wusste, dass er es genauso meinte, wie er es sagte, und empfand einen Schmerz, der mir fast den Atem nahm. Etwas, das ich schon so lange nicht mehr empfunden hatte, dass ich mich kaum noch daran zu erinnern vermochte. Beim Abschied von Eva hatte ich etwas empfunden, doch dies war nicht vergleichbar. Es musste enden, und fast fühlte ich mich erleichtert, dass es jetzt geschah – zu einem späteren Zeitpunkt wäre es nicht mehr zu ertragen gewesen.
Die Welt verschwamm vor meinen Augen, ich tastete mich die paar Stufen hinunter, den Weg durch den Vorgarten entlang, bis zum Gartentor, seinen Blick in meinem Rücken spürend. Ich wandte mich nach links, und Augenblicke später hatte mich der Verkehr auf der Möhringer Landstraße verschluckt. Ich atmete tief durch und wartete, bis das Bild vor meinen Augen wieder klar wurde.
So unangenehm und unerwartet mein kurzer Krankenhausaufenthalt zwei Tage zuvor auch gewesen war – ein Gutes hatte er doch gehabt. Er hatte mir die Möglichkeit verschafft, auf schnelle und unkomplizierte Weise an eine ansehnliche Menge Privatrezepte samt Klinikstempel zu kommen, die ich anschließend nur noch auszufüllen brauchte. Ich verbrachte den Nachmittag damit, von einem Stadtteil zum anderen zu fahren und sie einzulösen, immer nur eines auf einmal. Ab und zu sah ich hinter mich, und auch in der Bahn wanderte mein Blick unruhig über die Fahrgäste, doch an diesem Tag konnte ich keinen Verfolger ausmachen. Von Stunde zu Stunde wurde der Himmel über mir dunkler, und als die Apotheken schlossen, hatte ich mehr als genug Pappschachteln in meinem Rucksack verstaut, der Wind frischte stürmisch auf, und es begann zu schneien. Aus dem Schneeregen wurde Regen, es donnerte bedrohlich, und wenig später schüttete es wie aus Kübeln. Ich spürte ein unangenehmes Ziehen in meiner rechten Hand und dachte, dass es nicht schaden konnte, ein paar Kostproben meiner bunten Mischung schon einmal zu testen.
Mit einer kleinen Wasserflasche aus Plastik in der linken Hand und tropfnassen Kleidern setzte ich mich schließlich irgendwo an der Uni in den Bus Richtung Büsnau. Irgendwann während der Fahrt begann ich mich etwas besser zu fühlen. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass ich überhaupt nichts mehr fühlte. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass ich meinen Normalzustand annähernd wieder erreicht hatte.
Ralf fluchte. Er hatte ein Fenster vergessen. Es war erst das zweite Mal, dass ihm das passierte. Das zweite Mal, seit er drei Jahre zuvor den Fängen seiner überfürsorglichen Mutter entkommen war, die noch immer zwei Stockwerke tiefer residierte. Nachdem sein Vater schon einige Jahre früher das Weite gesucht hatte, hatte Ralf es nunmehr immerhin geschafft, sich sein kleines Reich unter dem Dach einzurichten. Seine Festung, seine Burg. Niemand durfte diese betreten, wenn er es nicht wollte. Und sehr wenige durften es überhaupt. Momentan im Wesentlichen Vicky und Lukas, doch der kam selten. Das Problem war, dass die Festung schräge Fenster hatte und dass Luke tagelang nicht zu erreichen gewesen war. Einsam und mahnend lag Lukes Notebook auf dem Tisch. Natürlich war die Nichterreichbarkeit seines Freundes der Grund für Ralfs Missgeschick, denn seit dem Wochenende hatte er angefangen, sich ernsthaft Sorgen zu machen, hatte wenig geschlafen und war am Morgen auf den letzten Drücker zur Arbeit gerast. Natürlich hatte er gesehen, dass es Regen geben würde, doch er hätte geschworen, das Küchenfenster geschlossen zu haben.
Er hatte sich geirrt.
Jetzt lag er mit einem Stapel Handtücher bewaffnet auf dem bereits aufquellenden Linoleumboden und versuchte verzweifelt, den See auszutrocknen, der sich unter Spüle, Herd und Kühlschrank zurückgezogen hatte. Immerhin mit dem Erfolg, dass der Dreck der letzten Jahre ebenfalls zum Vorschein kam. Als es klingelte, fluchte er noch mehr, denn es konnte nur Vicky sein, und das war nicht gerade die erotische Situation, in der er sie gerne empfangen hätte. Er drückte auf den
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