Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
bestimmter Reviergrenzen zusammenhing. David kannte nicht alle Details des kontrovers diskutierten Themas, weil ab und zu nur einzelne Wortfetzen zu ihm herunterflatterten. Er hockte am Fuße einer Treppe, die hinter einem Eisengitter in den Keller des Hauses führte, dessen Mauer er sich zum Anlehnen erwählt hatte.
An Schlafen war jetzt jedoch nicht mehr zu denken. Die beiden Kontrahenten schienen sich eher noch gegenseitig anzuheizen. Der eine betonte mit tiefer Stimme seine Unbesiegbarkeit im Straßenkampf und der andere verwies lispelnd auf seine exzellenten Beziehungen zu den gefürchtetsten Messerstechern der Stadt – die nur leider im Moment alle sehr beschäftigt waren. Aus dem Scharmützel wurde schnell eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung. Bald erreichten David in seinem Schützengraben die Granatsplitter einer mit unerbittlicher Härte vorgetragenen Schimpfkanonade. Dann landete ein Ohr vor seinen Füßen. Wenig später folgte auch der Besitzer desselben.
Der Mann lebte noch, sein grauenvolles Stöhnen konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Für David war damit das Maß voll. Er zog sein Langschwert aus der unter dem Mantel verborgenen Scheide und richtete sich auf.
In diesem Moment kam ein bulliger Mann die Treppe herunter, der den Eigentümer des entflogenen Ohrs »alle machen« wollte – genau so drückte er sich aus. Er klang zuversichtlich dieses Vorhaben auch in Kürze abzuschließen. Umso größer war seine Überraschung, als er über dem stöhnenden und gurgelnden Rivalen einen breitbeinigen Schatten entdeckte, dessen Haupt ein matter Schimmer umgab und in dessen Hand blanker Stahl funkelte wie die silberne Flamme eines eiskalten Lichts.
»Wer bist du?«, fragte der Bulle in einem Ton, wie man sonst nur Gespenster begrüßt.
»Dein Verderben, wenn du nicht sofort das Weite suchst.«
»Lass uns in Frieden, wir haben mit dir nichts zu schaffen!«
»Nennst du das Frieden?« Die schmale gebogene Klinge senkte sich deutend zu dem Schwerverletzten hinab, um sogleich wieder den Bullen anzuvisieren.
»Das geht dich nichts an«, sagte der.
David spürte, dass er in großer Gefahr war. Als Gespenst jedenfalls hatte er sich schlecht verkauft. Der massige Mann über ihm wurde zusehends mutiger. Er führte etwas im Schilde, das spürte David. Schon bereute er seinen Einfall in diesen schmalen Schacht gestiegen zu sein. Jetzt befand er sich in einer denkbar schlechten Verteidigungsposition. Sein Gegner versperrte den einzigen Fluchtweg und er konnte nicht einmal sein katana schwingen, weil er an drei Seiten von Backsteinmauern umgeben war.
Mit einem Mal wusste David, was der Bulle vorhatte. Er besaß eine Pistole und wollte damit schießen. Schon schlossen sich in der Manteltasche wurstförmige Finger um die Waffe.
»Lass die Pistole stecken!«, rief David so gebieterisch wie möglich.
Der Bulle zögerte. Allerdings nicht sehr lang. »Warum sollte ich das tun?«, fragte er mit einem fiesen Grinsen, das man mehr hören als sehen konnte.
»Weil ich dir sonst deine Hand abschneiden müsste.«
»Wenn du wirklich hellsehen kannst, sollte dir auch aufgefallen sein, wie hoffnungslos deine Lage ist. Für einen Angriff bist du zu weit unten. Du wirst nicht mal meine Füße erreichen, bevor dir meine Kugel ein Loch in den Wanst gebrannt hat.«
Der Bulle hatte Recht. Alle Trümpfe waren in seiner Hand. Das heißt, nicht ganz. Einer steckte noch in Davids Ärmel. Furchtlos (jedenfalls dem Anschein nach) antwortete er: »Was denkst du, wen du vor dir hast? Ehe du auch nur deinen Finger krumm machen kannst, werde ich ihn dir schon abfaulen lassen. Überzeug dich doch selbst. Steck deine andere Hand in die Manteltasche und zieh sie wieder heraus.«
»Was soll diese alberne Kinderei?«, knurrte der Bulle, ließ aber doch einen Anflug von Unsicherheit erkennen.
»Ich will nur, dass es deiner Hand besser ergeht als dem Ohr deines Kumpanen hier.«
Zögernd versenkte der Bulle die Linke im Mantel.
»Und jetzt zieh deine schwarze Hand wieder heraus«, forderte ihn David auf.
Dem Bullen graute es bei dem, was er sah. Sobald der hartgesottene Straßenkämpfer seine pechschwarze Hand vor Augen hatte, begann er wie am Spieß zu schreien. Dann rannte er kopflos davon.
David atmete erleichtert auf. Endlich konnte er sich um das Opfer kümmern. Das hatte inzwischen die Augen geöffnet und beobachtete jeden Handgriff seines weißhaarigen Retters. Mit dem wakizashi trennte David das Innenfutter aus
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