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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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starkes Schlafmittel, das er in einem Zug austrank, um dann festzustellen, dass der Pillendreher ihm boshafterweise Rizinusöl verkauft hatte.
    Nach einer Reihe weiterer ebenso erfolgloser wie peinlicher Fehlschläge legte er sich, auf die Zuverlässigkeit der königlichen Dampfrösser bauend, auf einen Schienenstrang. Er wartete zwei geschlagene Stunden, aber der dampfende und pfeifende Vollstrecker kam nicht. Wie sich später herausstellte, hatte die Königliche Eisenbahn just an diesem Morgen das Gleis stillgelegt – die Kohle wurde für die Front gebraucht.
    Es war zum Verrücktwerden, beinahe so, als sei er unsterblich! Jedenfalls bis zum Ende des Jahrhunderts. Frustriert schlug David den Weg zum Obdachlosenasyl der Heilsarmee ein. Während seine Sohlen Pflastersteine zählten, beschäftigten sich seine Gedanken mit den beiden Schwertern. Bis jetzt hatten sie alle Attacken gegen das eigene Leben unbeschadet überstanden. Das wakizashi war das traditionelle Instrument für jene Art der Ehrenrettung, die man in Japan seppuku oder auch harakiri nannte. Spätestens seit General Nogis Freitod und dem anschließenden Blick in Hitos traurige Augen verabscheute David das rituelle Bauchaufschlitzen. Irgendwie fehlte ihm auch der nötige Mut dazu, eine derart schmerzhafte Methode an sich selbst zu erproben.
    Es war das erste Mal, dass David den Schlafraum der Salvation Army aufsuchte. Ein Stadtstreicher hatte ihm diesen Tipp gegeben. Vor der Tür zu der Massenunterkunft blieb er unschlüssig stehen. Neben den Eingang hatte jemand mit Kreide einen seltsamen Spruch geschrieben:
     
    Herzlich willkommen im Heim der Untoten!
     
    Die Bandbreite des englischen Humors wird gemeinhin im dunkleren Farbspektrum angesiedelt. Oftmals ist er auch einfach nur tiefschwarz. David wusste das natürlich und konnte sich daher schon kurz nach Betreten der Unterkunft einen Reim auf den Willkommensgruß machen.
    Der lang gestreckte Raum war sauber gefegt, die Wände mit Ölfarbe gestrichen und mit zwei Reihen von Särgen ausgestattet. Die »Untoten«, soll heißen, die Bewohner der Särge, unterhielten sich angeregt, manche schliefen unter Decken aus Ölzeug, hier und da las einer ein Buch oder die irgendwo dem Wind entrissene Zeitung. Die vermeintlichen Särge waren selbstverständlich gar keine solchen, sondern nur lange, rechteckige Holzkisten – ohne Deckel! –, nahtlos aneinander gestellt, an den Ecken metallverstärkt und vorne mit fortlaufenden Nummern versehen.
    David war der Untote Nummer siebenundvierzig. Wie anschaulich dieser angebliche Scherz doch seinen derzeitigen Zustand illustrierte! Ein Heilsarmist im Range eines Feldwebels wies David seinen Schlafsarg zu und erklärte ihm, dass es noch nicht zu spät für eine Suppe sei, die nebenan ausgegeben werde.
    Gut und gerne hätte sich David ein anständiges Essen und sogar eine akzeptable Unterkunft leisten können. In seinem Mantel verbarg er das nötige Kleingeld hierzu. Aber das würde ihn in die Nähe wachsamer Augen bringen, die ihn gewiss nur an »standesgemäßen« Verstecken suchten, keinesfalls jedoch hier.
    Die Luft im Schlafsaal hatte mehr Konsistenz als die Suppe, die es zum Dinner gab (unmöglich festzustellen, was außer Wasser noch darin enthalten war). Das Schnarchen, Grunzen und Furzen mischte sich mit einer geruchlich äußerst bedenklichen Wolke, die wie der Londoner fog über den Särgen schwebte.
    Am Morgen war David von den Wohltaten der Heilsarmee erst einmal kuriert und atmete befreit das aus Ruß und Nebel bestehende Luftgemisch in Londons Straßen ein. Was sollte er nun tun? An Selbsttötung war vorerst nicht zu denken. Dazu war er infolge der vielen Fehlversuche zu geschwächt. Erst musste ihm eine einigermaßen zuverlässige Methode einfallen.
    Einen Tag lang streifte er wieder durch die Londoner Straßen, beobachtete die einfachen Menschen in ihrem Kampf ums Überleben und die betuchteren in ihrem Desinteresse an dem sie umgebenden Elend. Mit einem Mal befand er sich wieder in Soho. Gegen Mitternacht übermannte ihn die Müdigkeit und er suchte sich einen windgeschützten Unterschlupf zum Ausruhen. Nicht liegen, nur in der Hocke mit dem Rücken an die Wand gelehnt dösen, mehr wollte er nicht. Dabei geriet er unfreiwillig zwischen die Fronten zweier rivalisierender Banden.
    Auch die beiden Vertreter der zerstrittenen Parteien hatten sich nämlich ein ruhiges Plätzchen ausgesucht, um ihr Problem zu lösen – irgendetwas, das mit der Neuverteilung

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