Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
abzukürzen, zog er blitzschnell sein katana aus der Scheide, ließ es vor dem Beamten einen waagerechten Halbkreis durch die Luft beschreiben und steckte es wieder weg.
Der pomadisierte Mann starrte bestürzt auf den Federstummel, der aus dem Tintenfass ragte. Die obere Hälfte des Kiels war seinem Blickfeld entschwunden.
»Erlauben Sie mir jetzt mein Schwert mitzunehmen, Sir?«
Ein schüchternes Lächeln von der anderen Seite des Tisches signalisierte Zustimmung. »Allerdings«, vermeldete der Staatsdiener zaghaft, »müsste ich Ihnen den Federkiel vom Sold abziehen lassen.«
David nickte ergeben. Großbritannien war die Weltmacht schlechthin. Wie hatte dieses Land das nur angestellt, wenn es von Männern wie diesem verwaltet wurde?
Mit spitzen Fingern, die Notierung der Soldkürzung im Sinn, angelte der Beamte nach dem gestutzten Schreibzeug im Tintenfass. Aber dann erstarrte seine Hand mitten in der Luft. Verwundert blickte er auf das Glas, dessen Inhalt klar wie Wasser geworden war.
Ein konfiszierter Doppeldecker der Londoner Transportgesellschaft schaukelte David und etwa dreißig andere Rekruten in die Nähe von Portsmouth. Hier befand sich das Ausbildungscamp. Von hier aus sollte später auch die Verschiffung der Einheit nach Frankreich erfolgen.
Gleich nach der Ankunft nahm ein Stabsarzt die Busladung unter die Lupe. Er forschte in den Augen nach der Trachomakrankheit, die hier sowieso kaum jemand hatte, fahndete nach Läusen, die sich fast jeder hielt, und ließ Füße durch gezielte Schläge auf die Knie nach oben schnellen.
Im Falle Davids strapazierte Letzteres die Geduld des Arztes enorm, katapultierte das Bein des Probanden doch schon immer kurz vor dem Aufschlag des Hämmerchens nach oben. Selbst als der Weißkittel von David verlangte die Augen zu schließen und den Kopf in eine andere Richtung zu drehen, ließ sich das impulsive Bein nicht zur Räson bringen. Weil im Handbuch des Stabsarztes aber keine Vorschrift zu finden war, die zu schnelle Reflexe mit dem Entzug der Wehrtüchtigkeit ahndete, erklärte er die Musterung für beendet. Nur eines interessiere ihn noch, aus rein fachlichem Interesse, murmelte er in Davids Ohr, warum er denn so weiße Haare habe? Das sei ihm angeboren, erwiderte David unbekümmert, aber es würde seine Kampfbereitschaft in keiner Weise stören.
Inmitten einer Gruppe anderer Wehrtüchtiger war David gerade dabei, sein Hemd zuzuknöpfen, als er plötzlich ein kurzes Schnippen und ein metallisches Sirren vernahm, das ebenso schnell erstarb, wie es erklungen war. Seine Finger hielten sofort inne, seine Augen wurden groß und seine Ohren spitz. Mit einem Ruck fuhr er herum.
»Nick! Wie kommst du denn hierher?« David konnte es kaum fassen, seinen alten Schulkamerad hier zu sehen, den großen, schwerfälligen Nicolas J. Seymour.
»Mit dem Zug«, antwortete der grinsend. Erst dann wurde ihm wohl richtig klar, dass sie hier nicht in der Westminster School, sondern in einem Ausbildungslager der Royal Army waren, und er begann nun seinerseits David auszufragen. Ob es denn stimme, was man über den schrecklichen Unfall seiner Eltern höre, ob Camden Hall wirklich restlos niedergebrannt sei und ob das der Grund für Davids Hiersein wäre.
Für kurze Zeit vergaß David seine innere Leere und Zerrissenheit. Er freute sich einfach seinen Freund wieder zu sehen. Erst allmählich dämmerte ihm, dass Nick dasselbe Schicksal ereilen könnte, das er für sich selbst ja so sehnlich herbeiwünschte.
Nicolas gab sich unbekümmert. Er sei wieder einmal mit seinem alten Herrn aneinander geraten, heftiger als je zuvor. Die Drohung, ihn zu enterben, wurde wiederholt und mit dem Entschluss, ihn umgehend auf die Marineakademie nach Dartmouth zu schicken, gekrönt. Es sei eine reine Trotzreaktion gewesen, gab Nick unumwunden zu, dass er daraufhin von zu Hause weg und in das nächstgelegene Rekrutierungsbüro gelaufen sei. Und jetzt sei er hier.
Für weitere Erörterungen fehlte vorerst die Zeit. Die beinahe noch kindlichen Rekruten wurden zur nächsten Station ihrer Initiation getrieben. Der medizinischen Untersuchung folgte nun die Aushändigung der Ausrüstung, zu der auch die Uniformen gehörten. Anschließend wurden den Rekruten ihre Schlafplätze in den Baracken zugewiesen und zuletzt kam Sergeant Fox an die Reihe.
»Warum haben Sie sich freiwillig gemeldet, Milton?«, brüllte Sergeant Fox, ein braunhaariger Quälgeist, dünn wie eine Reitpeitsche, mitten in Davids
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